07.09.2011 / Interview

„Keine Frau treibt gerne ab!“

Kaum ein Thema wird so kontrovers diskutiert wie das Thema Abtreibung. Der individuellen Notsituation betroffener Frauen wird oft zu wenig Beachtung geschenkt.

ERF Medien sprach mit Kristijan Aufiero, Geschäftsführer der Schwangerschaftskonfliktberatung Die BIRKE e.V., über die Gründe, warum Frauen abtreiben und die Frage, wie echte Hilfe aussehen kann.

ERF: Herr Aufiero, für mich als Außenstehende ist es schwer nachzuvollziehen, warum eine Frau ihr Kind abtreiben möchte. Was sind die Gründe, die eine Schwangere zu so einem Schritt veranlassen?

Kristijan Aufiero: Es ist schwierig, alle Frauen über einen Kamm zu scheren. Meine Standardantwort auf die Frage ist, dass die Situationen so individuell sind, wie die Frauen selbst. Trotzdem kann man bestimme Raster erkennen.

Kristijan Aufiero ist seit 2009 1. Vorsitzender des Vereins Die BIRKE e.V.(Foto: privat)

Abtreibungsgrund Nummer eins ist unter der Überschrift ‚Partnerprobleme‘ zusammenzufassen. Das heißt einfach: Er will das Kind nicht und übt einen gewaltigen Druck auf die Frau aus. Das betrifft die große Mehrheit aller Fälle. Grund Nummer zwei ist der falsche Zeitpunkt. Man kennt sich erst seit sechs Wochen und ist weit davon entfernt, über Familienplanung nachzudenken. Oder die Frau empfindet ihre Partnerschaft als nicht ideal, weil sie ständig Schwierigkeiten mit ihrem Partner hat und sagt sich: „In die Situation hinein ein Kind zu kriegen, in der ich dann wahrscheinlich in zwei Jahren allein damit dastehe, das will ich nicht.

Der dritte große Bereich ist die Überlastung. Da ist zum Beispiel eine alleinerziehende Frau, die schon ein oder zwei Kinder hat und sich sagt: „Noch ein drittes, dann breche ich einfach zusammen. Diese Überlastung gibt es aber auch innerhalb von Familien, in denen beide Partner arbeitstätig sind.“
 

ERF: Welche Rolle spielt die pränatale Diagnostik in diesem Zusammenhang?

Kristijan Aufiero: Je mehr Untersuchungsmöglichkeiten es gibt, desto häufiger kommen natürlich irgendwelche Aussagen zustande wie: „Ihr Kind könnte mit einer Wahrscheinlichkeit von 33 Prozent eine Behinderung haben.“ Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich die Ärzte nicht wirklich im Klaren sind, was sie mit so einem Satz bei einer Schwangeren auslösen. Die Frauen bekommen dann Panik, dass ihr Kind nicht gesund ist und vielleicht einen genetischen Fehler hat, den sie schon in der Familie haben. Diese Angst halten viele Frauen nicht aus.
 

ERF: Doch diese Angst kann man der Frau als Außenstehender ja kaum nehmen. Wie gehen Sie in Ihrer Beratung konkret vor?

Kristijan Aufiero: Bevor man der Schwangeren eine konkrete Lösung anbieten kann, beraten wir sie erst einmal ausführlich. Denn die Schwangere kommt zu uns, weil sie abtreiben will und hat erst mal einen riesigen Informationsbedarf:  Wie ist die rechtliche Situation? Was kostet die Abtreibung? Wo ist die nächste Klinik? Und so weiter. Das heißt: Die eigentlichen Motive und Ursachen des Abtreibungswunsches, die schwierige Partnerschaft, die angespannte finanzielle Situation oder die Panik vor einem behinderten Kind, hat sie noch gar nicht reflektiert. Zuerst muss also der Grund mit ihr gemeinsam herausgearbeitet werden.

Wenn sie diesen dann klar artikulieren kann, ist schon ein ganz entscheidender Schritt getan, weil sie dann versteht: Nicht die Schwangerschaft ist das Problem, sondern eigentlich ist meine Partnerschaft das Problem. Wenn sie das erkannt hat, kann sie auch verstehen, dass man da die Lösung ansetzen kann.
 

ERF: Wie viele Frauen, die zu Ihnen kommen, entscheiden sich letztlich dafür, ihr Kind doch zu behalten?

Kristijan Aufiero: 70 Prozent der Frauen, die zu uns kommen, entscheiden sich für ihr Baby. Die offiziell gemeldeten Abtreibungen in Deutschland liegen ja bei 110.000 pro Jahr. Alle Frauen, die sich bei uns melden, sind zu hundert Prozent abtreibungswillig. Wenn sich 70 Prozent der Frauen nach einer richtigen Beratung und einem konkreten Hilfsangebot für ihr Baby entscheiden, dann bedeutet das eigentlich, dass die Massenabtreibung in Deutschland ein Phänomen der massenhaft unterlassenen Hilfeleistung ist.
 

ERF: Welche Bedeutung haben die persönlichen Werte einer Frau in einer solchen Konfliktsituation?

Kristijan Aufiero: Die Wertvorstellungen, die eine Frau hat, spielen im Augenblick dieser persönlichen Krise einfach eine untergeordnete Rolle. Die Sicherungen, die Werte, die man hat, brennen einfach in dem Moment durch. Sie weiß, sie hat nur noch wenige Wochen, ist in einem wahnsinnigen Stress und althergebrachte Wertvorstellungen schiebt sie zur Seite, weil sie in Panik ist. Die Schwangere sagt: „Ich hab mir niemals vorstellen können, dass ich je in so eine Situation komme. Ich habe Abtreibung immer abgelehnt. Und jetzt bin ich aber selber kurz davor, weil ich einfach keine andere Lösung sehe.“
 

ERF: Sie und Ihre Mitarbeiter freuen sich sicher über jede Schwangere, die ihr Kind bekommt. Doch wie sieht das bei den Frauen aus: Haben Sie schon einmal erlebt, dass eine Frau ihre Entscheidung für das Kind bereut hat?

Kristijan Aufiero: Noch nie. Das ist eigentlich das schönste Argument. Es gab noch nie eine Frau, die zu uns kam und gesagt hat: „Ihr habt mich damals bequatscht, dass ich das Kind kriege, jetzt nehmt es gefälligst wieder zurück.“ Wir warten da schon seit Jahren drauf.

Als ich 2006 bei Die BIRKE angefangen habe, kam einmal eine junge Frau. Das war für mich so ein Schlüsselerlebnis. Sie war mit 17 bei uns in der Schwangerschaftskonfliktberatung und war in einer katastrophalen Situation: mehrmals Schule abgebrochen, mehrere Aufenthalte in Heimen. Der Vater war ein arbeitsloser 26-Jähriger, der zu ihr wörtlich gesagt hat: „Ich prügel dir das Kind aus dem Leib.“ Ein absoluter Unmensch. Das war so eine katastrophale Situation, wo jeder heutzutage sagen würde: Bei so einer Familie ist es doch besser, wenn die gar keine Kinder kriegt. Da muss sowieso irgendwann das Jugendamt kommen. Diese Frau bekam ihr Kind und kam mit dem Kleinen sechs Wochen nach der Geburt zu uns, hielt es hoch beim Rausgehen und sagte: „Das ist das einzige in meinem Leben, worauf ich stolz bin. Das ist die einzige gute Entscheidung, die ich jemals getroffen habe.“
 

ERF: Das Problem ist also weniger das Kind, sondern vielmehr die äußeren Umstände der Frau. Was müsste sich denn in unserer Gesellschaft konkret ändern, damit sich mehr Frauen für ihr Kind entscheiden?

Kristijan Aufiero: Die Fälle sind immer sehr individuell und es gibt dafür keine generelle Lösung. Sie können nicht sagen: Wir müssen das Kindergeld verdoppeln oder in jedes Dorf eine Kita stellen. Das ändert nichts daran, dass die Frau zum Beispiel riesen Probleme mit ihrem Mann hat, der sagt: „Ich verlasse dich, wenn du das Kind bekommst.“

Wir brauchen dagegen mehr Beratungsangebote, die Frauen individuell beraten und helfen. Die sich jeder Frau einzeln annehmen und nicht innerhalb von einer halben Stunde einen Beratungsschein ausfüllen und sagen: „Das ist deine Entscheidung.“

Ich denke, dass unser Beitrag als Organisation darin besteht, dass wir die Wahrheit über die Konfliktsituationen kommunizieren, in denen sich die Frauen befinden. Und die Wahrheit ist einfach, dass 90 Prozent der Frauen nicht abtreiben möchten. Genauso ist es Unsinn zu sagen, die Frau kann das alleine entscheiden. Was hat denn eine Frau für eine Entscheidungsfreiheit, wenn sie aus dem Haus ausziehen muss, wenn sie das Kind kriegt? Oder wenn sie vor der Alternative steht, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen oder abzutreiben. Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Hier von Entscheidungsfreiheit zu sprechen, ist Zynismus.
 

Die BIRKE e.V. berät seit 25 Jahren Schwangere im Konflikt. Da in den letzten Jahren Schwangere vermehrt  im Internet nach Hilfe suchen, wurde aus der Mitte der BIRKE heraus Pro Femina gegründet. Die Beraterinnen von Pro Femina sind auf die Online-Beratung von ungewollt Schwangeren spezialisiert. Gemeinsam mit der Stiftung Ja zum Leben wurde zudem das Projekt 1000plus gegründet, das zum Ziel hat, tausend Frauen pro Jahr zu helfen.

ERF: Was könnte ich als Christ von mir aus tun, um die Schwangeren zu unterstützen?

Kristijan Aufiero: Ich glaube, dass es wahnsinnig wichtig ist, mit den Leuten Gespräche zu führen und die Botschaft zu verbreiten: Keine Frau treibt gerne ab. Das große Problem ist, dass die öffentlich geführten Diskussionen über Abtreibung an der Realität der Frauen vorbeigeführt werden. Man diskutiert über das Recht auf Abtreibung, das gewährleistet sein muss. Aber googeln Sie mal Abtreibung und lesen Sie mal nach, was die Frauen in den Foren schreiben und was die von den Situationen erzählen, in denen Sie sind. Das hat nichts mehr mit Freiheitsrecht zu tun.

Diese ganzen Diskussionen müssen wir zurückführen auf die Frage: Was wollen die Schwangeren? Worum geht es uns: Wollen wir wirklich, dass die Schwangere wählen kann? Dann müssen wir diese Wahlfreiheit herstellen und zwar dadurch, dass wir ihr eine echte Alternative anbieten. Wir müssen Sie aus dem Dilemma rausbringen.
 

ERF: In Berlin findet jährlich der Marsch für das Leben statt. Könnte das eine Art Engagement sein?

Kristijan Aufiero: Das Thema Abtreibung wird in der Öffentlichkeit geächtet und verdrängt. Dies ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass die notwendige Hilfe für abertausende von Schwangeren, die in größter seelischer Not sind, unterbleibt. Die Existenz dieser Frauen, die Situationen in denen sie sich befinden und Tatsache der jährlichen Massenabtreibung an sich müssen wieder ins Bewusstsein der Gesellschaft gebracht und in die Öffentlichkeit getragen werden. Das ist wirklich wichtige Aufgabe. Der Marsch für das Leben ist die mit Abstand größte Manifestation dieser Art in Deutschland. Ich kann daher nur jeden, der sich für die Schwangeren und ihre ungeborenen Babys einsetzen will, nur ermuntern, sich hier zu engagieren.
 

ERF: Wo sehen Sie Chancen aber auch Grenzen von politischem Engagement dieser Art beim Thema Beratung von Schwangeren im Konflikt?

Kristijan Aufiero: Politisches Engagement sollte nicht mit konkreter Beratung und Hilfe für Schwangere verwechselt werden. Beides ist wichtig und dient mittelbar bzw. unmittelbar den betroffenen Menschen.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch!

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