01.10.2011 / Wort zum Tag

Jesaja 48,9

Um meines Namens willen halte ich hin meinen Zorn, und um meines Ruhmes willen verschone ich dich, dass ich dich nicht ausrotte.

Jesaja 48,9

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In meiner Erinnerung sehe ich ihn noch ganz deutlich vor mir, den geistreichen, ehrwürdigen Theologieprofessor Günter Dehn. Als Studenten hatten wir uns im damaligen Nachkriegs-Wiederaufbau-Deutschland um den mutigen klarsehenden Bekenner zu Jesus Christus in der Hitler-Zeit geschart. Voll Begeisterung trugen wir ihm vor, wie wir uns die Zukunft von Kirche und Gesellschaft dachten. Aber er schwieg lange, den Kopf wie mit Schmerzen über seinen Stock gebeugt. Schließlich sagte er nur leise: „Merkt ihr denn nicht, dass Gott uns den Rücken zugewandt hat?“

Daran denke ich oft – gerade auch in diesen Tagen, da offensichtlich so viel aus dem Ruder gelaufen ist. Menschen versuchen zwar krampfhaft und guten Willens, das in Unordnung Geratene wieder in den Griff zu bekommen. Ihre Ohnmacht wird jedoch erschreckend offenkundig. Warum rechnen wir denn nicht mehr mit der Möglichkeit, dass Gott der Menschheit „den Rücken“ zugewandt hat?

Damit zu rechnen, das haben die Boten Gottes, die Propheten Israels, schon seit Jahrtausenden gelehrt: Wer Gott permanent den Rücken zukehrt, der darf sich nicht wundern, wenn auch Gott sich von seiner Schöpfung abkehrt! Da tobt sich dann nicht Gottes unkontrollierter Zorn aus. Zu heiligem Zorn hätte er allemal ein göttliches Recht gehabt. Aber Gott hält solchen Zorn immer wieder zurück. Das hat er durch seine Boten sein Volk Israel wissen lassen. Auch wir sollen es wissen, die wir so oft fragen, wenn Katastrophen uns erschrecken: „Wie kann denn ein liebender Gott so Schreckliches zulassen?“ Aber diese Katastrophen – so verstehe ich es, und so habe ich es bei Jesus gelernt – sind nur Hinweise darauf, was erst recht an Schrecklichem geschehen könnte, wenn Gott wirklich ganz die Welt sich selbst überlassen würde.

Gott hält jedoch seinen Zorn hin, er hält ihn zurück. Er hält sich zurück, sich ganz von uns abzuwenden. Das tut er mit Rücksicht auf uns; denn wir sollen verlangend danach werden: „Ich möchte mit dem Retter Jesus aus dem Zorn herauskommen! Ich möchte bei Jesus Gottes mir zugewandtes Antlitz entdecken!“

Vor allem aber hält Gott seinen wahren Zorn hin um seiner selbst willen. Er möchte so gerne, dass wir ihn nicht als harmlosen Opa verharmlosen, aber auch nicht als zornigen Rächer missverstehen. Darum geht es, wenn wir in der Bibel lesen: „Um meines Namens willen halte ich hin meinen Zorn. – Und um meines Ruhmes willen verschone ich dich, dass ich dich nicht ausrotte!“ Noch – auch heute noch – hat seine Barmherzigkeit kein
Ende! Das soll unsere Tagesordnung bestimmen, indem wir bitten: „Verlass uns, verlass mich nicht! Erbarme dich über uns!“

Autor/-in: Prälat i. R. Rolf Scheffbuch