05.10.2022 / Wort zum Tag

Ich lese gerne in der Bibel, weil…

Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch.

Römer 9,4–5

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Ich beginne mit einem Geständnis, was Sie vermutlich nicht überraschen wird, weil ich seit längerem Pastor bin, aber dessen Begründung für Sie vielleicht überraschend ist:

Ich lese gerne in der Bibel, weil… Natürlich gibt es viele nennenswerte Gründe, aber einen möchten ich Ihnen nahelegen, durchaus mit der Absicht, Sie zum regelmäßigen Bibellesen zu motivieren.

Ich lese gerne in der Bibel, weil mir da etwas mitgeteilt wird, was ich mir selbst nicht sagen kann und auch vermutlich nicht sagen würde. Weil mir in der Bibel nicht nach dem Munde geredet wird, sondern auch Themen angesprochen werden, die mir fremd sind, vielleicht sogar nicht passen, ja vielleicht sogar erst einmal ärgern. Aber ich finde das heilsam, weil ich dann nicht nur in meiner Blase der Selbstbestätigung lebe – wie man heute oft sagt – sondern Neues erkennen kann über mich, über den Glauben, über die Kirche und über die Welt.

Nur so kann man auch langlebige und schwere Irrtümer korrigieren. Auch wenn das nicht leicht ist. So ein weit verbreiteter Irrtum, der lange die gesamte christliche Kirchengeschichte in ihrem Verhältnis zum Judentum geprägt hat, war die sogenannte „Enterbungstheorie“. Das hatte katastrophale Folgen für den Umgang von Christen mit Angehörigen des jüdischen Volkes, dessen schlimmste Konsequenz in unserem Land die schweigende Billigung des Holocausts bis hin zur Mittäterschaft von Vielen im sogenannten „Dritten Reich“ war.

Und zur traurigen Wahrheit gehört auch, dass Antisemitismus und Judenfeindlichkeit bis in die Mitte der Kirchen reichten. Diese Begründung war und ist bis heute manchmal zu hören: Die „Juden“ haben Jesus abgelehnt und deshalb ist die christliche Kirche in Gottes Heilsplan an die Stelle Israels getreten. Das jüdische Volk ist quasi enterbt worden und die Kirche ist an seine Stelle getreten.

Und jetzt kommt ein Bibelwort ins Spiel. Denn Paulus nimmt diese Problematik in seinem Brief an die Römer auf und schreibt:

Es sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Römerbrief Kap 9, Verse 4 und 5.

Von wegen „Enterbung“. Jesus Christus war, ist und bleibt Jude. Ja, Jesus ist für die Christen der Messias, egal wie viele Juden ihn als solchen annehmen. Das ändert aber nichts an Gottes Zusagen für das Volk Israel. Die bleiben erhalten. Das macht Paulus deutlich. Wie konnte man das über Jahrhunderte überlesen und wegwischen. In den letzten Jahren haben viele diesen Irrtum erkannt und korrigiert.

Antisemitismus ist ein Gift, das Menschen im Kopf, im Herz und in ihren Taten zerstört und das in der Gesellschaft schlimme Auswirkungen hat. Bis in den Alltag. Dem muss man offen entgegentreten. Auch Christen haben hier viel zu lange geschwiegen.

Widerspruch gegen antisemitisches Reden und Handeln ist das eine, worum ich sie persönlich bitten möchte. Das andere: das Aufsuchen und Kennenlernen von Orten, wo sich jüdische Gemeinden treffen, wie z. B. Synagogen. Persönliche Begegnungen mit jüdischen Mitbürgern helfen, unser Leben hier gemeinsam zu gestalten.

Und das wollen wir auch nicht vergessen: am Ende der Welt-Geschichte steht weder ein neues Berlin, München, Paris oder London, sondern ein - durchaus neues – Jerusalem. Darüber wissen wir nicht viel, aber es gibt in der Bibel ein paar interessante Andeutungen. Auch deshalb lohnt es sich Bibel zu lesen, aber ich will mich nicht wiederholen…

Autor/-in: Pfarrer Hans-Georg Filker