10.01.2012 / Themenschwerpunkt Hochsensibilität

Hochsensibel: Gefühle in XL

Grelles Licht, laute Geräusche, viele Menschen. Für Hochsensible wird der Alltag zur Herausforderung. Dabei haben sie besonders viel zu geben.

Melanie besucht eine bunte und fröhliche Freikirche. Es ist ein Ort, an dem viel Platz für verrückte Ideen, Kinder und fetzigen Lobpreis ist. Trotzdem fühlt sie sich nach dem Gottesdienst immer wieder total erschöpft und ausgelaugt. Und das noch bevor sie sich nach dem Gottesdienst zum Kaffeetrinken ins Foyer begibt, wo laute Stimmen und Geräusche nur so durch den Raum sausen.

Wenn Elaine Aron Geschichten wie diese hört, ist für sie schnell klar: Hier ist die Rede von einem hochsensiblen Menschen. Mit Hochsensibilität beschreibt die New Yorker Psychologin und Universitätsprofessorin, die seit 1991 zu diesem Thema forscht, ein Phänomen, das ihren Untersuchungen nach auf 15-20 Prozent der Bevölkerung zutrifft. Hochsensibel sind Menschen, deren Nerven besonders empfindlich für Reize sind. Helles Licht, laute Musik oder viele Menschen in einem Raum erschöpfen sie schneller als andere Menschen.

„Ihre neurologische Beschaffenheit macht sie offener für Reize“, erklärt Christ Lüling, Seelsorgerin und Beraterin bei TEAM F., einem Verein, der sich um die Themen Ehe, Familie und Persönlichkeitsentwicklung kümmert. Es scheint, als ob bei ihnen ein Filter kaputt ist, der bei anderen Menschen dafür sorgt, dass im Endeffekt nur eine begrenzte Anzahl von Sinneseindrücken verarbeitet werden muss.

Wissenschaftliche Forschung

Elaine Aron weiß, wovon sie redet. Sie ist selbst hochsensibel, wie sie nach ihrem Psychologiestudium selbst schmerzhaft erfahren musste. Nachdem sie sich einen medizinischen Eingriff unterziehen musste, reagierten Körper und Psyche so heftig, dass sie sich selbst einer Therapie unterziehen musste. Mit Hilfe der Therapeutin erkannte sie, dass sie nicht irgendwie sonderbar, sondern einfach nur extrem sensibel ist.

Elaine Aron wollte mehr über diesen Charakterzug wissen. Da es in der psychologischen Literatur aber nur sehr wenig Material über den Wesenszug des hochsensiblen Menschen gab, machte sie sich als Psychologin selbst auf die Suche nach Antworten. Um sich und das Thema besser zu verstehen, entschloss sie sich, das Phänomen mit den Methoden der psychologischen Forschung zu untersuchen und wurde dadurch zu einer akademischen Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilität. Sie führte 40 Tiefeninterviews und entwickelte daraufhin einen Fragebogen, der an 1000 Leute verteilt wurde. Zusätzlich leitete Elaine Aron eine Telefonstudie, für die 300 Menschen per Zufallsgenerator ausgewählt wurden.

Arons Auswertungen legten die Erkenntnis nahe, dass etwa 15-20 Prozent aller Menschen hochsensibel seien – und zwar unabhängig vom Geschlecht. Überraschend für sie war die Tatsache, dass Hochsensibilität nicht gleichzusetzen ist mit Introvertiertheit. Arons Untersuchungen ergaben, dass 30 Prozent der Befragten extrovertiert seien.

„Ich bin nicht verrückt!“

Elaine Aron erklärt in ihrem Buch „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen können“, wie das Wissen um diesen Wesenszug ihr Leben verändert hat. Sie beschreibt, wie es für sie auf einmal möglich war, sich anzunehmen und zu erkennen: Ich bin nicht verrückt, ich bin nur anders. Immer wieder berichten Menschen, dass die Erkenntnis, ein hochsensibler Mensch zu sein, für sie ungemein befreiend ist.

So auch Martin. Der Musiker und studierte Theologe ist hochsensibel. Ein Burnout brachte ihn dieser Erkenntnis auf die Spur. Seit er weiß, dass er hochsensibel ist, kann  er viel besser damit umgehen, dass er in manchen Situationen einfach früher müde wird und die Segel streichen muss. Ihm ist klar, dass er nicht besser oder schlechter ist als Menschen, die nicht hochsensibel empfinden, sondern einfach nur anders. Anders bedeutet nicht, krank oder schwach zu sein. Im

Bild: A.JoanaCroft / sxc.hu

Gegenteil. Elaine Aron fordert hochsensible Menschen dazu auf, ihre Empfindungen als Gabe anzunehmen. Hochsensible Menschen seien oft besonders mitfühlend und hilfsbereit. „Sie können gut zuhören und sind in der Lage zu verstehen, was andere Menschen gerade durchmachen." Das hilft Martin zum Beispiel bei seiner Arbeite als Gesangslehrer: "Ich kann meine Schüler dadurch viel besser verstehen und fördern".

Hochsensibilität ist keine Krankheit

Mit der Hochsensibilität ist aber auch das Gespür für soziale Ungerechtigkeit verbunden. Dass sich gerader unter religiösen Menschen besonders viele Hochsensible finden, wundert die US-Professorin gar nicht. Weil sie schneller als andere die Last der Welt spüren, und nach Antworten suchen, die helfen, das Leid einzuordnen, erklärt Aron.

Es fällt ihnen schwer „das Leid in der Welt zu ignorieren. Sie wollen wissen, warum sie oder liebe Menschen sterben müssen und warum manche Menschen so viel Leid in ihrem Leben erfahren. Hochsensible Menschen denken schneller über diese Fragen nach. Deshalb werden sie auch zu spirituellen Leitern.“

Doch auch im praktischen Bereich lassen sich hochsensible Menschen schnell ansprechen. Geht es in einer Predigt darum, sich um Obdachlose und Arme zu kümmern, seien es vor allem die Hochsensiblen, die sich solche Aufrufe zu Herzen nehmen. Ihnen fällt es schwer, das eigene Leben und Glück zu genießen, wenn sie wissen, dass andere leiden.

Die Autorin und Psychotherapeutin legt zudem Wert darauf, dass Hochsensibilität keine Krankheit ist. Es sei Gabe und Aufgabe zugleich. Menschen mit hochsensibler Veranlagung können Stimmungen besonders gut wahrnehmen, Zusammenhänge leichter herstellen und verfügen über ein Höchstmaß an Intuition. Damit sind sie eine Bereicherung für die Welt – wenn sie sich nicht zu sehr zurückziehen. Denn diese Gefahr besteht durchaus. Deshalb ist wichtig, dass besonders empfindsame Menschen lernen, sowohl für sich selbst zu sorgen, aber sich auch immer wieder zu pushen,  und sich auf Herausforderungen einzulassen.

Für Elaine Aron bedeutet das zum Beispiel, sich immer wieder von ihrem unternehmenslustigen Mann anstecken zu lassen und in New York auf Entdeckungstour zu gehen. „Es ist wichtig, die Balance zu finden zwischen Rückzug und Eroberungsdrang. Man kann sich nicht zu sehr aus der Welt zurückziehen.“

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