26.10.2019 / Wort zum Tag

Gottes Erwählung kennt keine Ferien

Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott, und der HERR hat dich erwählt, dass du sein Eigentum seist, aus allen Völkern, die auf Erden sind.

5. Mose 14,2

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Als Student besuchte ich in Zürich das Musical «Anatevka». Am Broadway in New York 1964 uraufgeführt, wurde es zum Riesenerfolg. Der zugrundeliegende Roman «Der Fiedler auf dem Dach» erschien schon 1916. Der jüdische Schriftsteller Sholem Alechjem erzählt den mühsamen Alltag des Milchmanns Tevje und seiner Familie. Als sich für das russische Schtetl Anatevka ein Pogrom ankündigt, verlassen die Bewohner mit ihren Habseligkeiten ihre Heimat. In der Schlussszene wandern sie los – aber wohin? Das weiß noch niemand. Unvergesslich dann Tevje: Er bleibt unvermittelt plötzlich noch einmal stehen, blickt zurück auf sein geliebtes Schtetl, hebt den Kopf schräg nach oben und seufzt dem Himmel entgegen: «O mein Gottchen, kannst Du uns nicht mal für eine Stunde Ferien von unserer Erwählung geben?»

Tief betroffen dachte ich spontan: «O mein lieber Tevje, und du hast 1905 noch nicht gewusst, was euch Juden im 20. Jahrhundert noch alles bevorsteht!»

Ich empfinde eine tiefe Ehrfurcht vor dem Geheimnis dieser Erwählung. Unser Tageswort spricht von ihr: »Du Israel bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott, und der Herr hat dich erwählt, dass du sein Eigentum seist aus allen Völkern, die auf Erden sind» 5. Mose,14,2.

Diese Berufung wurde und wird im Judentum immer wieder auch als Zumutung, Last und unerträgliches Schicksal empfunden. Von Gott erwählt zu sein ist zwar eine Auszeichnung, aber kein Spaziergang. Denn Israel soll Zeuge des lebendigen Gottes in der Welt sein. Es soll die «Thora», also Gottes Weisungen, gute Gebote und Lebensordnungen im Lebensalltag umsetzen. Denn «das Wort Gottes ist ganz nahe bei dir in deinem Mund und Herzen, damit du es tun kannst» 5. Mose 30,14. Deswegen liebt der fromme Jude die Thora Gottes, so wie Psalm 119 sie beeindruckend besingt.

Aber auch wenn Israel an seiner Aufgabe immer wieder gescheitert ist, bleibt es Gottes auserwähltes Volk. Als jüdischer Rabbi und Apostel Jesu Christi denkt Paulus intensiv darüber nach und erkennt: Israel ist nach Pfingsten von Gott nicht verworfen und durch die Kirche ersetzt worden. Im Brief an die Christen in Rom führt er das in den Kapiteln 9 bis 11 aus: «Hat denn nun Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.» Denn man müsse unterscheiden zwischen solchen und anderen! Es gäbe unter Christen wie auch unter Juden sowohl treue Nachfolger als auch treulose Sünder. Deshalb müsse eindringlich vor überheblicher Arroganz europäischer Christen gegenüber Israel gewarnt werden.

Paulus hat absolut recht: Jesus hat zwar seine Jünger erwählt und dazu bestimmt, hinzugehen und Frucht zu bringen (Joh15,16). Aber deshalb sind nicht schon alle Christen automatisch gehorsame Nachfolger und glaubwürdige Zeugen Jesu.

Sowohl jüdische als auch nichtjüdische Menschen sündigen. Wie kann sich da noch der eine über den anderen erheben? Deswegen formuliert Paulus klar und deutlich: «Es ist ein und derselbe Gott, der gerecht macht: Die Juden aus Glauben und die Nichtjuden durch den Glauben» Röm. 3,30.

Die Erwählung Israels ist ebenso unverdient wie die Zuwendung, die Gott sündigen gottlosen Nichtjuden schenkt. Die Bibel nennt das durchgehend «Rechtfertigung allein aus GNADE». Sie kommt von dem einem und einzigen Gott. Der Vater Abrahams ist auch der Vater Jesu Christi.

Und dessen Segen verbindet, trotz vieler Unterschiede, Juden und Christen:

Autor/-in: Pfarrer i. R. Peter W. Henning