20.05.2010 / Interview zum Thema Sexuelle Gewalt

Extremsituationen für die menschliche Seele

Wie entsteht sexuelle Gewalt? Und wie können Kirchen und Gemeinden vorbeugend helfen? Ein Interview mit Sozialpädagoge Gottfried Cramer.

Bereits im Jahr 2000 hat der CVJM eine Handreichung zum Thema Sexueller Missbrauch entwickelt. Wie kam es dazu?

Ich kam aus dem CVJM, aus der Jugendarbeit und bin dann als Sozialpädagoge in die Klinik gekommen. Damals habe ich einen beruflichen Wechsel von der Jugend- in die Erwachsenenarbeit vollzogen. Hier bin ich plötzlich in eine Realität hineingekommen, in welcher ich die „Kinder“ von einer anderen Seite gesehen habe. Ich habe auf der Trauma-Station Erwachsene gesehen, die Kinder waren, als ihnen sexuelle Gewalt zugefügt wurde - über längere Zeit und auch in verschiedenen Umständen und Zusammenhängen.

Gottfried Cramer hat nach dem Studium der Sozialpädagogik an der FH Fulda von 1984 bis 1995 als CVJM-Sekretär in Gießen gearbeitet. Seit 2003 ist er als Referent zuständig für die Kommunikation und Marketing der Klinik Hohe Mark, wo er von 1997 bis 2003 im Sozialdienst tätig war. Nach einer Studie zum Thema „Sexuelle Gewalt“ erhielt er gemeinsam mit Hans Wiedenmann (Haus Maranatha/Königswinter) den Auftrag, ein Experten-Hearing für den CVJM Deutschland zu organisieren. Dieses fand am 17. Februar 2000 in Kassel statt. Das Ergebnis des Hearings war die Gründung einer Arbeitsgruppe mit dem Ziel, eine Mitarbeiterhilfe als Handreichung für die CVJM-Verbände in Deutschland zu erstellen. Aktuell hat der CVJM GV auf Basis der Erfahrungen mit der Handreichung ab 2000 im April 2010 eine Selbstverpflichtung zu den Themen Vernachlässigung und Gewalt - insbesondere sexueller Gewalt - im CVJM verabschiedet.

„Das war für mich ein echtes Erschrecken“

Das war für mich ein echtes Erschrecken. Man weiß, dass tatsächlich in vielen Krankheitsgeschichten mit psychiatrischen Diagnosen oft auch Gewalt oder sexuelle Gewalt vorgekommen ist. Diese Geschichten haben mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Das war eine andere Welt. Und ich war doch eigentlich „draußen in der Welt“ und hatte mit Jugendlichen zu tun gehabt. Ich hatte im CVJM fast jede Woche 100-200 Jugendliche gesehen, über Jahrzehnte hinweg. Ich war auf Freizeiten, aber ich hab davon nicht wirklich etwas mitbekommen. Und das war für mich ein Widerspruch.

Es war also nicht in erster Linie die Frage, ob es im CVJM vielleicht auch Übergriffe gegeben hat?

Nein, es war eine Frage an mich selbst und meine Wahrnehmung. Natürlich war damit für mich auch die Frage nach einer Dunkelziffer in unserer Jugendarbeit verbunden. Ich habe mich gefragt: Gibt es da eine andere Welt, eine Parallelwelt? Und ich habe feststellen müssen, ja die gibt es. Im Rahmen einer berufsbegleitenden Fortbildung habe ich dann eine Studie gemacht. Über ein Jahr lang habe ich die lokale Presse verfolgt und habe Zeitungsberichte ausgeschnitten, die mit dem Thema Missbrauch zu tun hatten. Das habe ich über ein halbes Jahr lang gemacht und dann festgestellt, dass daraus ein Riesenordner geworden ist.

Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?

Man schlägt jeden Tag die Zeitung auf und liest diese Sachen. Das heißt, wir haben hier eine Parallelwelt der Gewalt. Diese Parallelwelt ist zwar sichtbar, aber wir verstehen nicht wirklich, was da abläuft. Das war für mich erschreckend. Und dann kam der Gedanke auf: Ich möchte das sichtbar machen. Ich will, dass wir das wahrnehmen und uns darauf einstellen. Denn egal von welchen Zahlen wir ausgehen, ob von jedem dritten, achten oder zwölften Kind, es sind immer zu viele.

Auch in christlichen Gemeinden kann es zu Missbrauch kommen. Gibt es Strukturen, die christliche Gemeinden besonders anfällig machen?

So weit würde ich nicht gehen. Aber eine christliche Gemeinde, die in einer gewissen Weise Maßstäbe verschiebt, kann gefährdet sein. Christen haben in der Regel durch den Glauben und das Vorbild Jesu hohe Ansprüche an sich, was ja erst mal sehr gut ist. Das ist alles sehr lobenswert, aber man kann da in die Falle laufen. Nämlich dann, wenn man diesen Anspruch überhöht und nicht mehr merkt, wo man das gar nicht erreichen kann. Ganz schwierig wird es dann, wenn man das sich und anderen nicht eingesteht und dann nach und nach eine heile Welt aufbaut. Dann kommt es zu einer Gegenbewegung, die im Verborgenen wirkt. Und überall wo sich Missbrauchssysteme abgeschottet entwickeln, sind sie sehr virulent. Das ist allerdings primär ein soziologisches und kein theologisches oder kirchliches Problem.

Bedeutet das also, dass eine christliche Gemeinde nicht mehr aber auch nicht weniger gefährdet ist als andere Organisationen?

Als Sozialpädagoge habe ich zuerst einen soziologischen Zugang zu den Fragen: Wie leben Menschen miteinander und welche Probleme gibt es? Vieles, was jetzt zum Beispiel in der katholischen Kirche sichtbar wird, kann u.a. auch mit der Soziologie des Zölibats gedeutet werden. Da gibt es eine gewisse Struktur mit Rollen, Rollenerwartung und Rollenkonflikten. Und hierbei handelt es sich um ein mehr oder weniger geschlossenes System. Und alle, die sich in diesem System befinden, sind mehr oder weniger miteinander auf Gedeih und Verderben darauf angewiesen, dass sie ihr Zusammenleben gut organisieren. Das ist eine soziologische Struktur. Ob die jetzt in der Odenwaldschule läuft, in einem Internat oder einem Priesterseminar - soziologisch ist es das Gleiche. Von daher lautet die die Frage: Wie leben Menschen miteinander? Welche Strukturen sind soziologisch gesehen sektoid, das heißt: Welche Strukturen fördern Mechanismen wie Verleugnung, Gruppendruck, Verstecken und Opfer?

Warum fällt es Menschen, die Missbrauch erfahren haben, so schwer, auf das Unrecht hinzuweisen, das ihnen widerfahren ist. Sie sind doch die Opfer und haben doch alles Recht der Welt, Anklage zu erheben?

Das hängt ganz stark mit der Entstehung des Missbrauchs zusammen. In der Regel besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer. Der Missbraucher ist erst einmal mächtiger und erscheint dem Opfer auch so. Und je jünger ein Kind ist, um so weniger kann es einordnen, was da passiert und umso größer ist die innere Verwirrung. Kinder spüren die Macht des Täters und die eigene Ohnmacht. Aus der Sicht des Täters akzeptieren sie deshalb den Missbrauch, nach dem Motto „Die wollten das ja so“. Das ist eine perverse Logik, die durch die Machtausübung das Opfer kleiner macht und an sich bindet. Man muss das vielleicht mit dem so genannten Stockholm-Syndrom vergleichen, das beschreibt, wie Entführungsopfer sich oft mit ihren Entführern identifizieren. Deshalb geben Geiseln nachher oft zu Protokoll, dass sie eigentlich ganz gut behandelt worden seien.

Das hängt damit zusammen, dass in solchen Extremsituationen die Seele nach Möglichkeiten sucht, das Schlimme nicht zu spüren, nicht wahrzunehmen. Denn wenn sie es zulassen würde, dann würde sie so mit Angst und Panik überschwemmt werden, dass sie zerbräche. Die Seele ist so sensibel, so kostbar, von Gott gemacht, dass sie sich tatsächlich gerade in extremer Gewaltsituation auf eine Art und Weise schützen kann, die nicht nachvollziehbar ist. Dieses Überleben hat den Preis, dass die Dinge später nicht für möglich gehalten werden und dass es zu ganz verqueren Deutungen von Erfahrungen und Erlebnissen kommen kann.

Was können christliche Gemeinden präventiv tun?

Ich denke, dass es nicht die heilige, tolle, reine und perfekte Gemeinde gibt. Auch hier wird immer eine Dunkelziffer an Gewalt bleiben, was erschreckt. Aber ich denke, man kann etwas tun, damit sich so wenig wie möglich im Untergrund entfalten kann. Vorrangig für mich ist die Frage nach einer gesunden biblischen Lehre. Überall, wo es extrem wird, gibt es die Gefahr, dass sich die Dinge verselbstständigen. Dort, wo man Ansprüche entwickelt, die dann bewusst oder unbewusst Bigotterie und Scheinheiligkeit erzeugen. Das ist die Frage nach einer Verkündigung, in der der einzelne ein fröhliches Maß an evangelischer Freiheit hat.

Welche Themen sind besonders wichtig?

Ich finde die Frage wichtig, wie man über Sexualität spricht, auch über Probleme, die Erwachsene mit ihrer Sexualität haben. Denn Sexualität ist das, was Menschen ein ganzes Leben lang begleitet. Da stellt sich schon die Frage, wie man das in erfüllender und verantwortlicher Weise in sein Leben einbindet. Oder wie ist es, wenn Menschen in diesen Bereichen gewissen Ansprüchen nicht genügen und sich selbst Fallen stellen, Stichwort Internetpornografie? Man muss zugeben, dass wir in diesem Bereich gefährdet sind. Hier gibt es einen Sog. Die Frage ist, was man dagegen tun kann, welche anderen Kräfte man mobilisieren kann, damit sich dieses Vakuum nicht ausbreitet. Und da kommt auch die Gemeinde ins Spiel.

Inwiefern?

Ich kann Menschen in Aufgaben, in Verantwortlichkeiten mit hinein nehmen. Das bewirkt eine gewisse Erfüllung, wenn man an den Zielen der Gemeinde, an sozialen Zielen allgemein mitwirkt. Da wird positive Lebensenergie gebündelt. Da ist der christliche Glaube eine wunderbare Option, denn Gott nimmt uns mit hinein in sein Handeln. Dann haben wir - ich sage es mal flapsig - gar keine Zeit mehr, Mist zu bauen. Das ist jetzt nicht defensiv, sondern produktiv gemeint. Wir müssen nicht unbedingt gegen alles kämpfen, auch nicht gegen unsere eigene Sexualität. Sondern wir müssen uns für etwas einsetzen. Wir können den Ruf Gottes als etwas erleben, das uns Kraft gibt und uns beschenkt. Und dann können wir widerstehen und gestalten.

Was würden Sie Gemeinden auf die Predigtagenda schreiben?

Ich stehe als Prädikant der Evangelischen Landeskirche von Hessen und Nassau immer wieder auf der Kanzel. Für mich ist es wichtig, ins Leben hineinzupredigen. Dabei möchte ich auch über Gefühle reden. Gefühle sind in der Theologie etwas sehr Spannendes. Und wie wichtig Gefühle sind, habe ich hier in der Klinik gelernt, gerade im Umgang mit dem Thema „Sexuelle Gewalt“. Das ist auch für die Frage nach der Prävention besonders wichtig. Gefühle helfen zu verstehen, wo Grenzen verletzt wurden. Prävention heißt: Man muss Kinder stark machen und ihnen sagen: „Wenn ein Fremder dich berührt, das ist das nicht ok. Wenn du dich unwohl fühlst, dann trau deinen Gefühlen!“ Gefühle sind wie Botschafter, die uns mitteilen möchten, wo Sachzusammenhänge schief liegen. Wenn wir uns ärgern oder wütend sind, müssen wir uns fragen: Was sagt uns dieses Gefühl?

Das Gefühl an sich ist nämlich nichts Schlechtes. Wenn ich wütend oder traurig bin, muss ich dem auf den Grund gehen. Ich predige immer wieder über Gefühle in biblischen Texten und darüber, dass es wichtig ist, diese zu entdecken und sie einzuordnen. Das kann zu einem sehr produktiven Faktor werden. Ich kann dann Gefühle als etwas sehen, das mich durchs Leben führen. Angefangen von der Angst, die mich warnt und auf die ich höre oder nicht bis hin zur Freude, die mich lockt.

Wie können Menschen, die Missbrauch erfahren hat, wieder heil werden? Geht das oder muss man lernen, auf Dauer mit dem Schmerz zu leben?

Zunächst einmal ist es wichtig, den Missbrauch hinter sich zu lassen. Im wörtlichen wie im gedanklichen Sinne. Von missbrauchenden Menschen und Systemen muss man sich real trennen und sich dabei helfen lassen. Nicht so schnell geht das mit den seelischen Erinnerungen, die sehr quälen und das Leben sehr einschränken können. In der therapeutischen Arbeit allgemein von Heilung zu sprechen, ist sehr gewagt. Natürlich kann es Heilung geben, die je nach Schwere der seelischen Wunde und je nach unterschiedlicher innerer Stärke der Betroffenen, ein neues Leben gelingen lassen können. Ein Teil des Ursprungsschmerzes wird wohl immer bleiben. Doch die entscheidende Frage wird sein, wie viel Schmerz sich auflösen kann, und das geht eben auch.

Kann der christliche Glaube dabei helfen?

Unabhängig von der therapeutischen Frage nach Heilung gibt es die seelsorgerliche Dimension. Unser Glaube gibt uns die Möglichkeit, den Missbrauch hinter uns zu lassen. Menschen, die ihre Wut- und Rachegedanken an Gott in Jesus Christus abgeben können, haben eine Möglichkeit, quälenden Erinnerungen zu entgehen und gedanklich von ihrem Täter befreit zu werden. In diesem Sinne des Loslassens nennt das die Bibel „Vergebung“. Doch das geschieht nicht von heute auf morgen. Es kann auch nicht erzwungen werden.

Das Thema Vergebung ist in dem Zusammenhang sicher sehr schwierig.

Das größte Problem in der Frage der Vergebung ist eine Verwechslung. Viele christliche Seelsorger verwechseln Vergebung mit Versöhnung. Das sind aber zwei ganz unterschiedliche Dinge. Wenn ein Missbrauchsopfer dem Täter die Tat vergeben kann, dann war diese Tat trotzdem böse und sie wird es auch bleiben. Und das Opfer muss den Täter damit auch nicht rehabilitieren. Das Opfer hat lediglich sein Recht auf Wiedergutmachung an Gott abgegeben. Er ist der Richter, sagt die Bibel. Versöhnung ist mehr. Versöhnung tritt dann ein, wenn der Täter seine Tat zugibt, er sich bei dem Opfer entschuldigt. Dazu sagt die Bibel Buße.

Und auch wenn Menschen zu ihren Lebzeiten nicht heil werden, so bleibt doch die Gewissheit auf Gottes gute Zukunft. In der Offenbarung des Johannes steht der wunderbare Satz, dass Jesus Christus auf dem Thron der Welt sitzt und die Menschen, die ihm zu Lebzeiten vertrauten, zu den Quellen des lebendigen Wassers führt und dann wird „Gott abwischen alle Tränen von ihren Augen“. Off. 7,17


Sehen Sie auch: ERF Spezial - die Sondersendung zum Thema Missbrauch (Aufzeichnung der Live-Sendung vom 16.04.2010)
Überblick: Die Arbeitshilfe Sexuelle Gewalt des CVJM