08.11.2021 / Wort zum Tag

Erkennen und erkannt werden

Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.

1. Korinther 13,12

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Aus dem 1. Korintherbrief, Kapitel 13, ist der Abschnitt über die Liebe berühmt: „Die Liebe ist geduldig und freundlich“, heißt es da unter anderem Vielleicht kommen Ihnen diese Worte bekannt vor. Oft wird dieser Text bei kirchlichen Hochzeiten gewählt. Etwas weniger bekannt ist der heutige Lehrtext aus demselben Kapitel:

„Jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin.“

Was erkennen wir von unserer Welt? Hier etwas und da etwas. Den vollständigen Überblick hat keiner von uns. Das sollte uns bescheiden machen. Wie viele Freundschaften gingen zu Bruch, wie viele Spaltungen in Gemeinden entstanden, weil beide Seiten meinten, sie hätten den vollständigen Überblick und somit recht. Wir könnten die Türen wenigstens einen Spalt breit offenlassen und uns eingestehen: Es ist immerhin denkbar, dass meine Erkenntnis nicht alles umfasst.

Den Naturwissenschaftlern ist längst klar, dass ihre Erkenntnisse die letzten Tiefen nie werden ausleuchten können. Jede beantwortete Frage stößt zwei unbeantwortete Fragen an.

Etwas Weiteres kommt dazu: Wenn in der Bibel von „erkennen“ die Rede ist, dann ist immer mehr gemeint als eine Kopfsache. Es geht um unsere ganze Existenz.

Im vierten Kapitel der Genesis lesen wir: „Der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger.“ (Genesis 4,1) Hier ist mit „erkennen“ der Beischlaf gemeint.

Alles, was unserem Tagesvers im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes vorangeht, macht klar, dass es um mehr geht als um Kopfwissen, um viel mehr. Am krassesten kommt dies zum Ausdruck im 3. Vers: „Wenn ich all meine Habe verschenke und meinen Leib dahingebe, dass ich verbrannt werde, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts.“

Verbrannt werden …? Schreckliche Vorstellung! Aber eben: Ohne die in die Tiefe meiner Existenz reichende Liebe ist selbst dieses Opfer nutzlos.

Ich wiederhole: Zur Liebe gehört es, nicht immer nur recht haben zu wollen. „Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf.“ (V 4). Der Rechthaber ist prahlerisch und aufgebläht.

In unserem Vers geht es aber nicht nur um unser Erkennen, sondern auch um das Erkannt-Werden. Unser Erkennen ist menschlich und damit beschränkt, das Erkannt-Werden liegt auf der Seite Gottes und ist damit uneingeschränkt. Darum spricht Paulus von „ganz“ erkannt werden.

Ist das eine beängstigende Vorstellung? Von Gott durch und durch – bis auf den Grund unseres Innersten – erkannt zu werden? Für mich nicht, im Gegenteil: Ich darf völlig unverstellt vor Gott treten, ich brauche nichts vor ihm zu verstecken, da ich es ja ohnehin nicht kann. Ich kann meine dunklen Geheimnisse vor ihn bringen und unter dem Kreuz Jesu Christi deponieren. Warum? Weil er uns ganz erkennt und uns dennoch liebt.

Autor/-in: Pfarrer Alexander Nussbaumer