14.09.2021 / Wort zum Tag

Eine Kultur der Barmherzigkeit

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Matthäus 5,7

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Jesus sagt: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“. Ein starker Satz. Hoffentlich hören Sie ihn jetzt nicht in belangloser Routine – „barmherzig sein, ja, oft gehört“. Jesus will uns herausfordern.

Ich denke an den See Genezareth. In einer Reisegruppe standen wir oberhalb von Kapernaum. Dort, so sagt man, könnte Jesus die Bergpredigt gehalten haben. „Selig sind …“ – so beginnt sie. „Selig sind, die geistlich arm sind, … die Leid tragen, … die Sanftmütigen …“.

Unser Blick geht hinunter zur Straße. Zu Jesu Zeit waren dort nicht nur Bauern und Fischer unterwegs, sondern auch römische Soldaten, von vielen stöhnend verachtet. Aber Jesus sagt: „Selig sind die Barmherzigen.“

Drüben bei Kapernaum war Zollstation und Zahlstation - Geld für die Besatzungsmacht. Da kommt Wut auf. Aber Jesus sagt: „Selig sind die Sanftmütigen.“

Der Blick wandert hinüber zu den Felsen. Dort versteckten sich später Zeloten, „Eiferer“. Sie wollten mit Gewalt um Freiheit kämpfen. Aber Jesus sagt: „Liebt eure Feinde! Selig sind die Barmherzigen.“

Ist Jesus weltfremd? Nein, er hat das beste Programm für die Welt. Sein Blick bleibt nämlich nicht nach unten an Wut und Spannungen hängen. Sein Blick geht zu Gott. Da wird es spannend. Die Barmherzigen werden Barmherzigkeit erlangen.

Oder mit der Jahreslosung aus dem Lukasevangelium: Euer Vater im Himmel ist barmherzig mit euch – und wie! Jeden Tag leben wir aus seiner Güte. Immer neu beschenkt er uns mit Kraft und Mut.

Auch in Leidensstrecken gilt: Wir fallen nicht aus seiner Hand, sondern bleiben gehalten. Versöhnung stiftet Gott, Liebe auch über den Tod hinaus.

Und nun: Lebt diese Barmherzigkeit! Ihr könnt sie empfangen, müsst sie nicht produzieren. Jesus will immer neu eine erwartungsfrohe Sensibilität für Gottes Barmherzigkeit in uns wecken – und den Mut, damit zu leben, ja damit zu wuchern. Dort, wo Spannungen belasten, wo das Wort der Versöhnung nicht über die Lippen kommt. Wo Hassbotschaften den Ton angeben, wo Menschen schnell richten und miteinander fertig sind, noch bevor sie begonnen haben, sich zu verstehen.

Eine Kultur der Barmherzigkeit – sie ist nötig. Wir brauchen sie dringend gegen manche Trends unserer Zeit. Wer sich in sie einübt, wird immer barmherziger - auch mit sich selbst. Barmherzigkeit hat immer etwas Befreiendes!

Wobei es ein Missverständnis gibt: Barmherzigkeit heißt nicht, alles geschehen und laufen zu lassen! Auch Jesus übt manchmal scharfe Kritik an Zuständen und an einzelnen Menschen.

Er lehrt uns nicht, Ungerechtigkeit zu vertuschen. Aber wie wir sie beim Namen nennen und wie wir dabei miteinander umgehen – das soll von Barmherzigkeit geprägt sein. Auch im Wahlkampf schließen sich kritische Auseinandersetzung und ein barmherzig-würdevoller Umgangsstil keineswegs aus.

Jesus will uns aus engen Grenzen der Hartherzigkeit befreien. Er will uns von Kaltherzigkeit heilen. Er setzt die Barmherzigkeit des Vaters dagegen.

Oben auf dem Berg am See Genezareth lasen wir damals die Bergpredigt – und beteten dann, was mitten in ihr steht: Vater unser im Himmel - vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Da wird der Blick weit, wirklich weit.

Autor/-in: Prälat Ulrich Mack