31.01.2017 / Reportage

Eine blaue Tube Zahnpasta

Nadeshdas Leben hat sich durch „Weihnachten im Schuhkarton“ verändert.

Alles, was ich über Weißrussland gewusst habe, war, dass die Hauptstadt Minsk ist. Das war vor einem Monat, bevor ich mit der Hilfsorganisation „Geschenke der Hoffnung“ nach Weißrussland geflogen bin. Ich durfte eine Geschenkeverteilung von „Weihnachten im Schuhkarton“ begleiten. Ich lernte Menschen kennen, deren Leben durch einen solchen Karton auf den Kopf gestellt wurde. Doch nicht nur das: Ich lernte, wie eine gemeinsame Vision Differenzen über Putin, Merkel und die Flüchtlingspolitik in den Schatten stellen kann.

11 Januar 2017: Es geht los – von Frankfurt mit Umstieg in Kiew nach Minsk. Mein vermutlich wertvollstes Gepäckstück ist eine Mappe mit Apfelmotiv, in der ich alles gesammelt habe: Meine Vorbereitungen für den Fernsehdreh mit Nadeshda Tsymbalist und ihrer Familie. Sie hat mit 12 Jahren ein Geschenk der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ bekommen. Hinter ihrer Kurzbiographie und meinen Drehplan habe ich meine Recherche über Weißrussland geheftet und die Fragen, die sich hieraus für mich ergeben. Die möchte ich allen möglichen Menschen stellen, die mir auf der Reise begegnen: Sind die Weißrussen zufrieden mit Präsident Lukaschenko, der seit fast 23 Jahren im Amt ist? Was ist ihre Sicht auf den Ukraine-Konflikt? Was denken sie über die EU?

150.000 liebevoll verpackte Schuhkartons

12. Januar 2017: Nic, ein Mitarbeiter von „Operation Christmas Child“ (englische Bezeichnung der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton) holt unser Fernsehteam vom Hotel in Minsk ab. Er wird als Übersetzer fungieren, der Dreh auf Englisch stattfinden. Nic war fast von Anfang an dabei, als „Weihnachten im Schuhkarton“ in den 90er Jahren seine Mission in Weißrussland aufgenommen hat. Dieses Jahr sind es 150.000 verpackte Schuhkartons aus dem deutschsprachigen Raum, die in Weißrussland verteilt werden. In den Kartons befinden sich Spielsachen, Süßigkeiten und Hygieneartikel.

Die Organisation „Geschenke der Hoffnung“ arbeitet mit Partnern vor Ort zusammen. Diese planen die Verteilungen und entscheiden, wie das Rahmenprogramm aussieht. In Nadeshdas Fall hat eine Kirchengemeinde die Verteilung vorgenommen. Neben den Geschenken hat auch die Weihnachtsgeschichte eine große Rolle gespielt. Das ist aber nicht immer so. Auf der Reise, an der ich jetzt teilnehme, findet eine Geschenkeverteilung in einem staatlichen Kinderheim statt. Hier wird es keine Weihnachtsbotschaft geben. Das scheint für alle Beteiligten in Ordnung zu sein. Priorität sei, dass Kinder beschenkt werden.

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Ein besonderer Moment - für alle Beteiligten

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Sofort auspacken und ausprobieren!

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Eine wichtige Botschaft des Schenkers

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Plattenbauten aus der Sowjetzeit

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Der Winter macht dem Landesnamen alle Ehre

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Beim Dreh: Nadeshdas Tochter Mascha experimentiert

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Wenn sie tanzt... Nadeshdas Tochter Sascha

© David Vogt / Geschenke der Hoffnung - Im Dienst: Nic von "Operation Christmas Child"

Nadeshdas Wunsch: Raus aus dieser Hölle!

Die Zielgruppe der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ sind Kinder in Armut. Armut definiert die Organisation „Geschenke der Hoffnung“ entweder als finanzielle oder als emotionale Armut. Nadeshda Tsymbalist gehörte zu beiden Kategorien, erzählt sie mir im Interview. Sie hatte als Kind zwar ein Dach über dem Kopf, aber ihre Familie konnte sich wenig leisten: „Süßigkeiten gab es nie“. Das ist unvorstellbar für mich. Als Kind habe ich die Koalabären von Schöller von ganzem Herzen und mit all meinen Zähnen geliebt. Der Süßigkeitenverzicht war für Nadeshda bei Weitem nicht das Schlimmste. Sie braucht ein bisschen Zeit, bevor sie über die schlimmen Erlebnisse ihrer Kindheit spricht.

Ihre Eltern waren alkoholabhängig. „Ich bin nachts oft wachgeworden. Ich habe gehört, wie meine Eltern geschrien haben. Es war vielleicht 1 Uhr nachts. Sie haben Gegenstände genommen und sich gegenseitig geschlagen. Ich habe versucht Hilfe zu bekommen – bei Nachbarn oder der Polizei.“ Zu oft wollte sie aber auf die Situation Zuhause auch nicht aufmerksam machen. Sonst könnte das Jugendamt eines Tages vor der Tür stehen. Als Kind wollte Nadeshda zu ihrer Oma ziehen. Zu ihrer Oma, die draußen auf dem Dorf gewohnt hat. Die mit ihr zur Kirche gegangen ist. Die weit weg war von der Hölle, die Nadeshda Zuhause erlebt hat.

Am Zufluchtsort mit einer blauen Tube Zahnpasta

13. Januar, in einem Dorf bei Minsk. Nadeshda begleitet unser Team zu einer Geschenkeverteilung, die vom Roten Kreuz organisiert ist. Nadeshda verteilt ebenfalls Weihnachtspakete an die Kinder. Bevor sie den einzelnen Kindern einen Schuhkarton überreicht, sagt sie: „Wisst ihr, das hier ist mehr als ein Geschenk.“

Vor der Verteilung erzählt Nadeshda mir, wie sie selbst vor 19 Jahren einen Schuhkarton bekommen hat. „Ich weiß noch ganz genau, was in dem Karton drin war. Eine Milka-Schokolade, eine blaue Tube Zahnpasta, Stifte. Alles war neu und von guter Qualität.“ Für sie war bereits beim Auspacken klar: Sie will ab jetzt regelmäßig zur Sonntagsschule der Kirchengemeinde gehen. Der Ort tat ihr gut, er wurde ihre Zuflucht, wenn Zuhause alles drunter und drüber ging. Denn in der Kirche lernte Nadeshda Menschen kennen, die ihr Halt gaben. Die sie geliebt und angenommen haben.

Zwischen den Verteilungen rund um Minsk ist für das Team aus Deutschland gut gesorgt. Es steht immer viel Essen auf dem Tisch, wir können alle möglichen weißrussischen Spezialitäten probieren. Dabei tauschen wir uns über unsere Arbeit aus; wir erzählen, wer aus welchem Grund an dieser Reise teilnimmt. Aber nicht nur das: Wir sprechen über Politik, über das, was Weißrussland und Deutschland aktuell bewegt.

Respekt, Neugier und eine neue Perspektive

Weißrusslands Präsident Lukaschenko ist seit fast 23 Jahren im Amt. Aus EU-Sicht eine Katastrophe, er ein Diktator. Es könnte schlimmer sein, sagen die meisten, die ich darauf anspreche. Die Regierung sei stabil, dem Land gehe es von Jahr zu Jahr besser. Es gebe zwar keine Pressefreiheit und Demonstrationen würden sofort aufgelöst, aber entscheidend sei, dass es den Menschen, die man kennt, gut geht. So würden sich viele beim Abwägen doch für Lukaschenko entscheiden. Dasselbe höre ich über Putin und Russland.

Und die EU? Hier fühlen sich einige der Weißrussen, mit denen ich spreche, hin- und hergerissen. Auf der einen Seite freue man sich über Produkte aus EU-Ländern. Was dort produziert wird, hat gute Qualität. Doch im politischen und gesellschaftlichen Bereich sei ihnen der Einfluss der USA zu groß. Und auf die USA sind nicht alle gut zu sprechen. Mehrere machen sie verantwortlich für den Krieg in der Ukraine. „Es war kein Konflikt, der im Landesinneren entstanden ist“, sagt mir ein Gesprächspartner. Da zur Zeit viele Flüchtlinge aus der Ukraine in Weißrussland sind, habe man mit vielen Betroffenen persönlich darüber gesprochen.

Auch wenn Weißrussland ebenfalls Flüchtlinge aufnimmt: Der „Offene-Grenzen-Politik“ Angela Merkels stehen viele kritisch gegenüber. Das könne nicht gutgehen. Mit Entsetzen habe man zuletzt die schlimmen Nachrichten aus Deutschland verfolgt. „Ich fand es trotzdem richtig, dass Merkel die Grenzen geöffnet hat“, entgegnet ein Mitarbeiter aus dem deutschen Team. Einig ist man sich bei den politischen Themen nicht unbedingt. Aber: Der Austausch ist geprägt von Respekt, von Neugier, von dem Wunsch, eine andere Sichtweise kennenzulernen.

Eine gemeinsame Mission

14. Januar 2017: Wieder sitze ich im Flugzeug. Ich habe Zeit, meine Eindrücke zu verarbeiten und die Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Im Vordergrund der Reise stand die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“. Ein Projekt, das Kinder beschenkt und verändert – das habe ich erlebt und darüber habe ich viel hören dürfen. Dieses Projekt hat uns alle zusammengeführt: Die Mitarbeiter von „Geschenke der Hoffnung“, die Journalistinnen und Drehteams, die weißrussischen Partner. Dass wir über politische Themen zum Teil unterschiedliche Ansichten haben, hat überhaupt nichts ausgemacht. Denn alle waren sich in diesem Punkt einig: Kinder sind es wert, beschenkt zu werden.


Mehr zur Geschichte von Nadeshda erfahren Sie in unserer Sendung „Gott sei Dank“:

Autor/-in: Christine Keller