24.08.2021 / Interview

„Die Narbe bleibt“

Tomas Sjödin hat zwei Söhne verloren. Wie er getrauert hat und warum er trotzdem gerne lebt, erzählt er im Interview.

Tomas Sjödins Söhne Karl-Petter und Ludwig sind mit einer Hirnerkrankung zur Welt gekommen. Zuerst wirken sie gesund, doch als sie mit einem Jahr weder anfangen zu gehen noch zu sprechen, folgen viele Untersuchungen – aber keine Diagnose. Karl-Petter stirbt, als er 15 Jahre alt ist. Fünf Jahre später stirbt auch Ludwig. Wir haben mit Tomas Sjödin über die Zeit der Krankheit, den Verlust seiner Söhne und sein Gottesbild gesprochen.
 

ERF: Sie haben viel Zeit bei Ärzten und in Krankenhäusern verbracht und doch gab es keine Diagnose für die Krankheit Ihrer Söhne. Wie sind Sie damit umgegangen?

Tomas Sjödin ist 58 Jahre alt und lebt mit seiner Frau Lotta und seinem Sohn John in Schweden. Er arbeitet als Pastor und Autor. (Foto: ERF)

Tomas Sjödin: Eine Diagnose zu bekommen, wird mit den Jahren immer weniger wichtig. Am Anfang war es sehr wichtig, weil man wissen möchte, wie das Leben weitergehen wird. Aber wenn die Kinder älter werden, merkt man ohnehin, wie sich das Leben entwickelt. Aber wir haben trotzdem unheimlich viel Zeit bei Ärzten verbracht.

Karl-Petter und Ludwig waren auf viel Unterstützung angewiesen – mit ihren Rollstühlen, mit der richtigen Dosis ihrer Medikamente. Außerdem haben die Ärzte sozusagen auch an ihnen geforscht. Sie wollten eine Diagnose finden, um weiteren Kindern, die mit dieser Krankheit geboren werden, zu helfen. Das haben wir akzeptiert. Trotzdem hatten wir in den ganzen Jahren ein gutes Leben. Es war ein hartes Leben, aber kein schlechtes.


ERF: Wie sah der Alltag mit Ihren Söhnen aus?

Tomas Sjödin: Wir sind früh aufgestanden, um sie für die Schule fertig zu machen. Sie sind ihr ganzes Leben lang zu einer speziellen Schule gegangen. Meine Frau und ich sind dann zur Arbeit gegangen. Wie konnten beide die ganze Zeit halbtags arbeiten. Wir sind nie komplett zuhause geblieben, weil uns bewusst war, dass wir etwas brauchen, zu dem wir später zurückkehren können.

Unsere Abende haben wir dann meistens zusammen verbracht. An zwei Abenden in der Woche sind Menschen zu uns gekommen, die uns unterstützt haben. So hatten wir die Chance, Zeit mit unserem mittleren Sohn John zu verbringen. Und jede dritte Woche waren Karl-Petter und Ludwig in sogenannten „Support Families“, die sich dann um sie gekümmert haben. Die Menschen um uns herum haben uns so viel wie möglich unterstützt.

„Gott ist die einzige Hoffnung und gleichzeitig ein Problem“

ERF: Haben Sie sich in dieser Zeit die Frage gestellt, warum gerade Ihre Kinder krank zur Welt kommen mussten?

Tomas Sjödin: Ja, das haben wir. Aber wir haben so viele Menschen in ähnlichen Situationen getroffen, deswegen haben wir uns gefragt: Warum nicht wir? Vielleicht sind wir eine Familie, die damit gut umgehen kann. Keine perfekte Familie, aber gut für diese Situation. Meine Frau und ich lieben uns, wir lieben unsere Kinder und es sah so aus, als wenn sie uns auch lieben.
 

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Lesezeichen: Wo du richtig bist (1/4) - Aus dem Buch von Tomas Sjödin (s.u.)

ERF: Wie hat sich die Situation auf Ihren Glauben an Gott ausgewirkt?

Tomas Sjödin: Während Gott die einzige Hoffnung in deinem Leben ist, ist Gott gleichzeitig in Problem in deinem Leben. Ich glaube, dass während man lebt, sich immer wieder das Bild, das man von Gott hat, verändert. Man sieht Gott aus einer bestimmten Richtung man denkt: So ist Gott.

Aber wenn etwas passiert, das einen aus der gewohnten Welt wirft, fängt man an, Gott zu suchen und erkennt ihn nicht. Deswegen sagt man, dass Gott nicht mehr da ist. Aber er ist da. Nur: Ich habe mich bewegt. Wenn dann die Schatten langsam weggehen, siehst du, dass Gott anders ist, als du angenommen hattest. Du siehst eine andere Seite von Gott. Manchmal kann das weh tun, aber es ist auch etwas Großartiges. Denn Gott wird immer größer.
 

ERF: Wie sind Ihre Söhne dann gestorben?

Tomas Sjödin: Unser ältester Sohn ist gestorben, als wir nicht zuhause waren. Wir hatten ihn abgegeben, um in einen Urlaub zu fahren. Als wir auf dem Weg nach Frankreich waren, haben wir einen Anruf bekommen, dass es ihm sehr sehr schlecht geht. Während dieses Anrufs, es war ca. eine halbe Stunde, ist er gestorben. Wir waren auf der falschen Seite Europas und alles war schrecklich. Dass wir nicht bei ihm waren – damit müssen wir für den Rest unseres Lebens leben.

Auf der anderen Seite haben wir uns auch oft gesagt: Wenn wir so gelebt hätten, dass dies unmöglich gewesen wäre, vielleicht wäre ein anderer Teil des Lebens gestorben. Unsere Ehe, unsere Beziehung zu John, unserem mittleren Sohn. Wir brauchten eine Pause. Aus dem gleichen Grund, aus dem wir an allen anderen Tagen da waren: Weil wir ihn geliebt haben.

Unser jüngster Sohn ist fünf Jahre später gestorben. Es war an einem Sonntagmorgen. Wir konnten ihn für den Rest des Tages zuhause behalten. Alle seine Freunde kamen, um sich von ihm zu verabschieden.

Trauer vs. Sehnsucht

ERF: Wie haben Sie getrauert?

Tomas Sjödin: Für mich gibt es einen Unterschied zwischen Trauer, Verlust und Sehnsucht. Trauer ist Arbeit, die man machen muss, aber sie hat ein Ende. Dann stellst du fest: Die Sehnsucht nach dieser Person wird für immer bleiben. Es ist wie man sich weh tut. Es kommt ein Tag, an dem die Wunde nicht mehr blutet, wenn sie anfasst. Da sind wir jetzt, zehn und 15 Jahre später. Die Narbe wird bleiben, wir vermissen unsere Söhne jeden Tag. Wir sprechen jeden Tag über sie, aber es tut nicht mehr so weh wie am Anfang.
 

ERF: Was hat Ihnen in diesem Trauerprozess geholfen?

Tomas Sjödin: Unsere Kirchengemeinde ist für uns immer wichtiger geworden. Es war gut für uns, an einen Ort zu kommen, an dem alle wussten, was passiert ist. Und in der Zeit, in der es für uns etwas schwerer war zu glauben, konnten wir uns einfach entspannen. Die Kirche glaubt und das tut sie seit 2.000 Jahren, das ist kein Problem für die Kirche. Wir konnten uns einfach treiben lassen auf diesem Ozean, der die Kirche ist. Und es hat sich angefühlt, als wenn sie in dieser Zeit unser Glaube waren.

Wiedersehen im goldenen Rollstuhl?

ERF: Glauben Sie, dass Sie Ihre Söhne wiedersehen werden?

Tomas Sjödin: Absolut. Daran habe ich nie gezweifelt. Ich weiß nicht, wie es sein wird und ich verstehe auch nicht, wie es möglich ist. Meine Frau ist sich absolut sicher, dass sie gesund sein werden, laufen und lachen. Für mich ist das keine große Frage. Wenn wir uns wiedersehen und sie sitzen in einem goldenen Rollstuhl, ist das auch ok für mich. Solange es ok für sie ist. Ich lebe mit der Hoffnung, sie wiederzusehen. Ich freue mich aber nicht darauf, zu sterben. Ich lebe gerne.
 

ERF: Haben Sie Pläne für Ihre Zukunft?

Tomas Sjödin: Ich habe zu viele Pläne für zu wenig Zeit, das ist mein Problem. Zurzeit plane ich, eine neue Kirche zu bauen, ein diakonisches Zentrum in der Mitte unserer Stadt. Ich hoffe, es wird eine Kirche, die mehr als eine Kirche ist. Ein Ort, der bedeutsam für unsere Stadt ist. Ein Ort, zu dem Menschen kommen können, um Hilfe im Alltag zu erhalten. Das ist einer meiner Träume. Ich träume auch davon, weiter zu schreiben. Ich trage viele Bücher in mir, die ich noch nicht geschrieben habe. Und ich plane, älter zu werden. Darauf freue ich mich auch.
 

ERF: Vielen Dank für das Gepräch*.

*Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.


Tomas  Sjödin ist schwedischer Schriftsteller und Pastor. Seit der schweren Erkrankung und dem Tod von zweien seiner drei Söhne beschäftigen er sich immer wieder mit dem Themen Leid und Trauer.

Autor/-in: Christine Keller

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