21.12.2023 / Wort zum Tag

Die Mauer im Kopf

Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

2. Korinther 3,17

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Es war im Jahr 2006, als ich mit meinem Mann in Berlin in die erste gemeinsame Wohnung gezogen bin. Es war eine hübsche Wohnung im Wedding, direkt an der Grenze zum Bezirk Pankow. Am Wochenende ist oft einer von uns morgens losgegangen, um bei dem guten Bäcker Brötchen zu holen, den es gleich drüben in Pankow gab. Wir mussten dafür einfach nur die Straße runter und dann links unter einer S-Bahn-Brücke durchgehen, und da war gleich der Bäcker mit seinen Brötchen und Kuchen, die wir so geliebt haben.

Ich wusste, dass es hier lange nicht möglich gewesen war, mal schnell rüber nach Pankow zum Bäcker zu gehen. Dieser Durchgang unter der S-Bahn-Brücke war lange zugemauert gewesen, denn genau hier verlief die Mauer, die Berlin geteilt hat. Der ehemalige Mauerstreifen war noch erkennbar, und wenn man genau hingesehen hat, hat man noch Spuren gefunden, es standen noch die alten Lampen und Reste der Hintermauer, die den Mauerstreifen nach Osten hin abgegrenzt hatte. Ich bekam oft Gänsehaut, wenn ich da lang ging, und ich war so dankbar, dass die Mauer jetzt weg ist und dass die Menschen hier wieder frei sind.

Und ich habe dann nicht schlecht gestaunt, als ich mit der Zeit erfahren habe, dass sowohl auf der Weddinger als auch auf der Pankower Seite Leute wohnten, die noch nie unter dieser Brücke hindurch in den jeweils anderen Bezirk gegangen waren. Das konnte ich kaum glauben, denn es war damals ja schon 17 Jahre her, dass die Mauer weg war. Aber es gab tatsächlich Menschen, die einfach noch nicht auf die Idee gekommen waren, da mal rüberzugehen. Es gab sie tatsächlich, diese „Mauer in den Köpfen“. Viele Menschen waren neben dieser Mauer groß geworden und hatten sich durch und durch an ihre alltäglichen Wege gewöhnt. Jetzt hätten sie bewusst gegen ihre Gewohnheiten handeln müssen, um diesen neuen Weg auf die andere Seite zu beschreiten. Sie hätten anders abbiegen müssen und eine Straße entlanggehen müssen, wo früher keine war. Und sie hätten dieses Stück Boden überqueren müssen, das früher tödlich war. Und das machten viele tatsächlich nicht. Sie hatten die Freiheit dazu, aber sie haben diese Freiheit nicht in Anspruch genommen.

Der Lehrtext zur Losung der Herrnhuter Brüdergemeine steht im 2. Korintherbrief, Kapitel 3, Vers 17. Da heißt es: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Gottes Geist schenkt Freiheit in einem sehr ähnlichen Sinn. Durch Gottes Geist bin ich von der Angst befreit, dass ich durch einen falschen Schritt, durch eine kleine Übertretung des Gesetzes gleich von Gott getrennt bin. Das ist die Aussage im übrigen dritten Kapitel des 2. Korintherbriefs. Ich darf unter der Leitung von Gottes Geist gedanklich und auch ganz konkret Neuland betreten. Ich darf es wagen, neue Gedanken zu denken und zu experimentieren, ohne Angst, dass Gott mich sofort bestraft, wenn ich einmal falsch abgebogen bin.

Mich macht das oft sehr nachdenklich: Welche Mauern habe ich wohl im Kopf? Wo bin ich aus reiner Gewohnheit auf den alten ausgetretenen Wegen unterwegs? Wo verpasse ich dadurch gute Gelegenheiten für das Evangelium? Wo übersehe ich dadurch Menschen, die mich eigentlich bräuchten? Wo verpasse ich selbst dadurch Dinge, die mir selber guttun würden? Wo verpasse ich dadurch etwas von der Fülle, die in Christus ist?

Für diese letzten Tage vor Weihnachten könnte das eine gute Übung sein: Einmal bewusst auf einem anderen Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen zu gehen. Einmal anders abbiegen als gewohnt. An diesem Heiligabend eine Sache anders machen als all die Jahre zuvor. Und dadurch erleben, wie Gottes Geist auch meinen Geist in eine neue Freiheit führt.

Autor/-in: Jutta Schierholz