11.02.2024 / Andacht
Die Kunst des Liegenlassens
Was ich von meinen jüdischen Nachbarn über das Sabbatgebot lernte. Eine Andacht.
Eine laute Sirene ertönt am Freitagnachmittag in ganz Jerusalem und signalisiert damit den Sabbatbeginn. Für den Einkauf auf dem Markt bin ich jetzt zu spät dran. Ich trete frustriert den Rückweg von der Innenstadt in meinen Stadtteil an. Der Sabbat beginnt mal wieder viel zu früh. Jüdische Familien in festlicher Kleidung laufen an mir vorbei in Richtung Synagoge.
Ich hingegen zerbreche mir den Kopf darüber, wie ich jetzt noch alles erledigen soll, wenn die nächsten 24 Stunden weder Bus noch Straßenbahn in Betrieb sind. Wie kann ich bitteschön zur Ruhe kommen, wenn die Aufgabenliste eigentlich noch endlos lang ist? Ich bin einfach noch nicht bereit für den Sabbat. Jetzt noch nicht.
Ganz ohne religiösen Regelzwang
Ich habe viele Monate in Israel gelebt und stand dabei jede Woche aufs Neue vor der Frage: Warum scheine ich die Einzige zu sein, die bis zur Sabbatsirene nicht mit allen Wochenaufgaben fertig ist?
Doch mit der Zeit verstand ich, dass sich auch bei meinen Nachbarn noch die Teller in der Spüle stapeln und dass es gar nicht darum geht, alles erfolgreich beendet zu haben. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, das Wochengeschehen bewusst zu unterbrechen und Gott damit Raum zum Handeln zu geben. Es geht nicht um religiösen Regelzwang. Kontrolle abgeben, Vertrauen aufbauen – darum geht es.
Gott setzt dem menschlichen Aktionismus Grenzen
Das Wort Sabbat ist verwandt mit dem hebräischen Verb für aufhören oder ruhen. Die Christenheit feiert den Ruhetag bekanntlich einen Tag später, am Sonntag. Gott setzt im Sabbatgebot eine klare Grenze in unseren leistungsorientierten Aktionismus: „Sechs Tage sollst du deine Arbeit verrichten, aber der siebte Tag ist ein Ruhetag, der mir, dem Herrn, deinem Gott, gehört“ (2.Mose 20, 9-10).
Nur wenn ich den Ruhetag fest in meiner Woche platziere und eben nicht an meine noch anstehenden Erledigungen anpasse, gebe ich Gott Handlungsraum. Erst dann erlebe ich, dass mein Tun gar nicht entscheidend ist. Dass sich die Welt auch ohne meine Aktivität weiterdreht. Und nur wenn ich einen radikalen Abbruch zulasse, schenke ich Gott wirklich Vertrauen über mein Leben.
Ich brauche den Sonntag, um mich daran zu erinnern und Gottes Tun wahrzunehmen. Die Zeit mit Gott gestalte ich mit Gottesdienstbesuchen, auch mal mit Gebetsspaziergängen oder damit, ein geistliches Buch zu lesen. Und wenn sonntags der Dienst im Schichtplan steht, baue ich mir meine Sabbattraditionen an einem anderen Wochentag ein.
Die Kunst des Liegenlassens
Noch vor vier Jahren in Israel ärgerte ich mich regelmäßig über den abrupten Abbruch zwischen Wochengeschehen und Feiertag. Heute weiß ich: Es geht darum, diesen abrupten Abbruch zu wagen und damit die Kontrolle über mein Leben Gott anzuvertrauen. Es ist die Kunst des Liegenlassens und nicht die des Erledigens, die den Sabbat so einmalig macht.
Das könnte Sie auch interessieren
02.11.2022 / Artikel
Eine Pause entfernt
Im Hamsterrad des Alltags scheint die Ruhe unerreichbar. Dabei geht es nicht ohne sie. Joachim Bär über die Frage: Wann ist es auch mal gut?
mehr26.11.2022 / Artikel
Gepäck tragen ist nicht sexy
Was macht Ihnen das Leben schwer? 3 Tipps Lasten loszuwerden.
mehr27.03.2024 / Artikel
Schluss mit Rastlosigkeit
Was deinem Leben mehr Ruhe und Balance gibt. 6 Tipps von Autor und Pastor John Marc Comer.
mehr05.11.2022 / Artikel
Raus aus dem Hamsterrad
Was unsere gehetzte Informationsgesellschaft von Jesus lernen kann.
mehr21.11.2018 / Artikel
Immer mit der Ruhe
Unzufriedenheit und Sorgen belasten uns. Wie man sich dagegen wehrt.
mehr