14.08.2024 / Bibel heute

Die Heilung eines Tauben

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge[...]

Markus 7,31–37

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Er seufzt: „Du verstehst mich nicht.“ Sie schaut ihn an, zuckt mit den Achseln und geht traurig hinaus. Eben noch haben sie heftig gestritten. Aber es bringt nichts. Es ist, als wären sie beide in einer Glasglocke gefangen – jeder in einer anderen. Sie erreichen einander nicht. Jedenfalls nicht mit dem, was ihnen auf dem Herzen liegt. Dabei haben sie gesunde Ohren! Sie gebrauchen die gleichen Worte, und trotzdem können sie sich dem anderen nicht verständlich machen.

In dem Roman „Maifliegenzeit“ erzählt Matthias Jügler von Katrin und Franz. Die beiden sind jung verheiratet, voller Liebe zueinander und freuen sich auf ihr erstes Kind. Einen Tag, nachdem es zur Welt gekommen ist, wird ihnen gesagt: „Ihr Sohn ist auf dem Transport in die Kinderklinik leider verstorben.“ Beide sind sprachlos vor Entsetzen. Katrin hat zudem das Gefühl, irgendetwas stimmt hier nicht. Franz entzieht sich innerlich. Er kann seiner Frau nicht zeigen, dass er für sie da ist. Ihr Seufzen geht ins Leere. Stumm liegen sie abends nebeneinander und starren ins Dunkel. Etwas Kaltes, das sie nicht benennen können, breitet sich zwischen ihnen aus. Einige Wochen danach verlässt Katrin ihren Mann, ohne sich von ihm zu verabschieden. Beide sind eingeschlossen in ihre Trauer, unfähig miteinander zu sprechen.

Vielfältig sind die Gründe, die uns taub und stumm machen. Verstehen und verstanden werden - oft gelingt das nicht. Auch Jesus erlebt das. „Versteht ihr denn noch nicht?!,“ klagt er im folgenden Kapitel. Nicht einmal seine engsten Freunde begreifen, was er meint. Es geht hier noch um eine andere, tiefere Verschlossenheit: Wir sind allzu oft taub für das, was Jesus uns sagen will. Gott erreicht uns nicht mit seiner Liebe. So bleibt uns der Himmel verschlossen. Darunter leidet Jesus. Und seufzt.

Er sah auf zum Himmel und seufzte.“ In der eben gehörten Geschichte ist das die Mitte. Das einzige Wort, das er spricht, klingt selbst wie ein Seufzer: „Hefata!“ Öffne dich! Werde aufgeschlossen!

Einen weiten Weg ist Jesus gegangen: Von Tyrus nach Sidon, hoch in den Norden, wo die Menschen an andere Götter glauben. Dann reist er wieder Richtung Süden an den See Genezareth. So richtig fromm sind die Leute dort auch nicht - in Galiläa. Sein Weg führt ihn weiter: in brandenburgische Dörfer, nach Niedersachsen und Mecklenburg, in die sächsischen Industriegebiete, von dort bis nach Württemberg – und zu uns. Es gibt einige, die ihn schon kennen. Und die bringen einen Menschen zu ihm, mit dem sie sich nicht verständigen können. Er ist gehörlos und kann darum auch nicht richtig sprechen, nur lallen.

So beginnen Wunder: Jesus kommt zu uns - wir bringen Menschen zu ihm. Und bitten, dass er sie anrührt. Beten für Menschen, deren Leid uns nahegeht - oder die uns Not bereiten. Für Menschen, die eingeschlossen sind in sich selbst - oder denen der Himmel verschlossen ist. Schon darin liegt etwas Heilsames: Wir quälen uns nicht länger mit sinnlosen Verständigungsversuchen. Halten es aus, unverstanden zu bleiben. Machen dem anderen keinen Vorwurf mehr, dass er uns nicht versteht. Das entlastet ungemein. Es ist übrigens noch nicht heraus, wer von uns taub ist – der andere oder ich selbst. Vielleicht jedes in einer anderen Hinsicht. Indem wir die Menschen und die Not zu Jesus bringen, sind wir zugleich selbst bei ihm.

Die Leute in der Geschichte bitten Jesus, dass er dem Gehörlosen die Hand auflegt. Das tut er nicht. Stattdessen nimmt er ihn beiseite. Anders als erwartet reagiert Jesus auf unsere Gebete. Damit müssen wir rechnen. Es kann sein, er nimmt auch mich beiseite. Eine Krankheitszeit, eine Krise vielleicht. Oder ich folge einem Wink von ihm und nehme eine Auszeit. Zeit der Stille. Auf jeden Fall weg von der Menge, heraus aus dem Getriebe. Nur Jesus und ich. Lasse ich das zu?

Es ist ein Abenteuer. Wir wissen vorher nicht, was er tun wird. Doch immer wird es heilsam sein, wenn wir uns von ihm beiseite nehmen lassen. Seine Liebe findet Wege, sich uns verständlich zu machen. Wenn ich nur stillhalte und mich von ihm berühren lasse. Dem Gehörlosen legt er die Finger in die Ohren, und der begreift: Es geht ihm um meine ganz konkrete Not, um mein Gehör. Jesus spuckt aus und berührt seine Zunge; der Stumme weiß: Es geht ihm nahe, dass ich mich nicht verständlich machen kann.

Wenn Jesus mich beiseite nimmt, wird er vermutlich etwas anderes berühren. Er wird den Finger auf meine wunden Punkte legen. Lasse ich es zu? Oder laufe ich ihm davon? Die Versuchung ist groß. Anstatt Stille zu suchen, flüchten wir oft lieber in tausend Aktivitäten. Denn wenn Jesus die Wunden offenlegt, spüren wir die Schmerzen, die zuvor eingeschlossen waren.

Der Gehörlose lässt Jesus an sich heran. Soweit er es im Moment kann. Mehr ist nicht nötig. Was Jesus jetzt tut, ist der Schlüssel: Er schaut auf zum Himmel. So stellt er die Verbindung zum Vater her. Der Gehörlose kann das mitvollziehen; denn seine Augen sind ja gesund. Und Jesus seufzt. Auch das sieht und versteht der taubstumme Mensch: Jesus hat sich meine Not zu Herzen gehen lassen. Und jetzt lässt er sie wieder heraus - zu Gott hin. Das erste Wort, das den Tauben erreicht, ist Jesu Seufzer: Hefata! Werde aufgeschlossen.

„Da öffneten sich seine Gehöre,“ steht da wörtlich, „und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst.“ Öffnen und lösen – der Mensch wird befreit. „Und er redete richtig.“

Auf einmal ist es nicht mehr schwer, sich zu verständigen. Er versteht die anderen, sie verstehen ihn. Die Glasglocke ist weg, sie können einander offen begegnen. Werden zu aufgeschlossenen Menschen.

Die gefangen waren in Schuld oder Scham, eingemauert in alten Verletzungen, verschlossen in Angst – Jesus nimmt ihr Seufzen auf und schickt es zum Vater. Diejenigen, denen ihr Leid die Sprache verschlug, die verstummt waren, weil niemand sie hörte, können sich mitteilen. Jesu Seufzen löst die Fesseln und öffnet die Tür ins Freie. Seine Verbindung zum Vater schließt den Himmel auf. Wo er hinkommt, geschehen Wunder.

Am Schluss der Geschichte geraten die Leute außer sich: „Er hat alles gut gemacht; alles ist wieder schön! Er schafft, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen!“ Wenn das geschieht, ist die Zeit der Erlösung angebrochen. Das wissen sie von den alten Propheten und erkennen: Es ist ja jetzt! Heute, wenn wir Jesus begegnen! Sie erinnern sich an die Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel der Bibel: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Jesus stellt die Schöpfung wieder her, so wie Gott sie gemeint hat. Er heilt, was durch die Sünde der Menschen zerstört ist. Zeichenhaft beginnt es! Es beginnt, wo wir mit Jesus das Seufzen der Leidenden aufnehmen und aufsehen zum Himmel: Hefata! – Werde aufgeschlossen!

Autor/-in: Pfarrerin Dr. Brigitte Seifert