03.10.2020 / Kommentar
Die Einheit mitreißend vorleben
Kommentar von Andreas Odrich zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit.
Jubeln wir noch, dass wir am 3. Oktober 2020 den 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung feiern, oder mosern wir schon, dass an diesen Samstag die Geschäfte geschlossen sind? Andreas Odrich von der ERF Aktuell-Redaktion meint, dass wir richtig ausgiebig feiern müssten und dass dieser 3. Oktober ein ganz besonderer Tag bleiben wird.
Für mich gibt es keinen Zweifel: Der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung bleiben die größten historischen Ereignisse in meinem Leben. In dieser Zeit vom 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, bis zum 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung unseres willkürlich getrennten Landes, wuchs zusammen, was zusammengehört. Und das muss gefeiert werden.
Für mich ist viel zu wenig von der wieder gewonnenen Einheit die Rede. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass der 3. Oktober 2020 als Jubiläums-Datum der deutschen Wiedervereinigung unter Corona-Beschränkungen und erstem ungemütlichem Herbstwetter verdämmert. Und das darf nicht sein. Denn es gibt viele Gründe, warum es sich lohnt, zu feiern:
- Eine gemeinsame Demokratie: Was für ein Glück ist es, auch im eigenen Land hin- und herreisen zu können. Was für ein Geschenk ist es, dass für alle die gleichen notfalls einklagbaren demokratische Rechte gelten, und niemand in den Stasiknast wandert, oder grün und blau geknüppelt wird, wenn er Entscheidungen der Regierung kritisiert. Das ist nicht selbstverständlich, etwa die Hälfte der Menschheit wird laut Wiki-Demokratieindex unterdrückt.
- Ein Vorbild, das Geschichte gemacht hat: Prägend für die friedliche Revolution waren Menschen, die mit Kerzen und Gebeten über die Straße zogen. Gestärkt wurden sie dadurch, dass die Kirchen ihnen ein Dach als Ausgangspunkt für ihre Versammlungen gaben. Die Menschen in der DDR haben der friedlichen Revolution damit ein unauslöschliches Gesicht verliehen, als sie ohne Gewalt für ihre Freiheitsrechte eintraten. Darüber muss immer wieder geredet werden. Darin werden die Ostdeutschen immer Vorbild bleiben.
- Ein Land, das unter der Zusammenführung nicht in die Knie gegangen ist: Deutschland ist unter den Herausforderungen der Wiedervereinigung nicht zusammengebrochen. In Halberstadt und Hannoversch Münden, in Rendsburg und Rudolstadt gibt es mehr Normalität, als es die Nachrichten in den herkömmlichen Medien und in den sozialen Netzwerken vermuten lassen. Ja, tatsächlich, im Prinzip geht es uns gut.
Keine rosarote Brille
Doch auch meine Sicht der Dinge ist nicht rosarot gefärbt. Ja, es gab damals die Massenarbeitslosigkeit und die Treuhand hat als Einstiegsgeschenk zur deutschen Einheit viele Betriebe aus der DDR unnötig weggeputzt. Und ich fände es ärgerlich, wenn bei Sparmaßnahmen zuerst das MAN-Werk im sächsischen Plauen schließen müsste, und ein vergleichbarer Effekt noch einmal einsetzte.
Aber auch im Ruhrgebiet ist längst nicht mehr alles wie früher, auch dort hat der industrielle Strukturwandel Spuren hinterlassen; Gelsenkirchen gilt mittlerweile als die Stadt mit dem bundesdeutsch gesehen niedrigsten Lohnniveau.
Herausforderungen jetzt gemeinsam bewältigen
Doch ich finde es wichtig, dass wir uns angesichts solcher Herausforderungen eben nicht in die alten Lager aufspalten. Lange genug gab es in den 1990er Jahren Spannungen zwischen „Ossis“ und „Wessis“, die Mauer in den Köpfen existierte weiter. Herausforderungen wie die hier genannten oder die Corona-Krise sollten uns nicht spalten, sondern enger zusammenrücken lassen. Deshalb darf und muss an so einem Tag auch einmal ganz bewusst an die guten Seiten der deutschen Einheit erinnert werden.
Im Schatten der Mauer aufgewachsen
Als West-Berliner bin ich im Schatten der Mauer aufgewachsen, die Berlin, Deutschland, Europa und die Welt in zwei unüberwindliche Lager teilte. Sie war mit Stacheldraht, Minenfeldern und Schießbefehl alles andere als die putzig bunt besprühte Mauergalerie, auf die man im Internet oft als erstes stößt, wenn man den Begriff Mauer eingibt.
Die Mauer war vielmehr Ausdruck davon, dass ein Staat mit seinen Machthabern keine andere Möglichkeit mehr sah, im Sinne „der guten Sache“ (Originalton SED-Funktionäre) das eigene Volk einzusperren und notfalls zu ermorden, wenn es fliehen wollte. Ich habe als Kind und Jugendlicher die düstere, verrammelte Glienicker Brücke als ständige Endstation erlebt, auf der gelegentlich Agenten zwischen Ost und West ausgetauscht wurden; heute ist diese Brücke wieder ein begehrtes Ausflugsziel, auf und unter dem die Ausflügler zwischen Berlin und Potsdam hin- und her radeln, wandern oder paddeln.
Dieses Geschenk ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Erst später nach dem Mauerfall habe ich die Geschichten von verschiedenen Menschen kennen gelernt, die durch die DDR systematisch schikaniert oder gar eingesperrt wurden und auch heute noch mit über 60 Jahren ihr Diktatur-Trauma mit sich herumschleppen.
Christus will die Einheit
Jesus Christus bittet in seinem sogenannten „Hohepriesterlichen Gebet“, dass diejenigen, die ihm nachfolgen, „alle eins“ sein sollen (Johannes 17,21). Man spürt diesem Text ab, wie Christus unter der Zerrissenheit der Menschen leidet; sie ist für ihn alles andere als Gott gewollt. Jesus Christus ist es ein Herzensanliegen, die Zerrissenheit zu überwinden.
Für Deutschland können wir am Tag der Deutschen Einheit bei allen Abstrichen und bei allem, was es noch zu tun gibt, sagen: „Wir haben es geschafft!“ Unter Gebeten und mit Kerzen ganz eindeutig auch mit Gottes Hilfe.
Das will ich feiern. Und das gibt mir auch Zuversicht, dass wir bei aller Unterschiedlichkeit, die es zu diversen Themen gibt, uns nicht im Trennenden einmauern und einbetonieren, sondern offen aufeinander zugehen und gemeinsam die Wege in die nächsten 30 Jahre Deutschland und Europa gehen. Das gilt es zu feiern, und es muss den nachrückenden Generationen immer wieder bewusst gemacht und einladend und mitreißend vorgelebt werden. Dafür will ich mich nicht nur am 3. Oktober einsetzen.
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