24.01.2022 / Andacht

Der schwermütige Engel

Was gibt's denn da zu grübeln?

Vor mehr als 500 Jahren, um genau zu sein: im Jahr 1514 ist in einem Nürnberger Atelier dieser Kupferstich entstanden. Unter dem Namen „Melencholia I“ ist das Werk in die Kunstgeschichte eingegangen. Und seither interessieren sich auch Mathematiker für den Kupferstecher: Albrecht Dürer.

Melencolia I, 1514 (Bild: Public Domain, via National Gallery of Art)

Was sehen wir, wenn wir dieses Kunstwerk betrachten? Wir sehen einen Engel, in dumpfes Brüten versunken. Den Kopf hat er in die linke Hand gestützt, die Rechte spielt mit einem Zirkel herum. Über dem bekränzten Haupt des Engels hängen drei Gegenstände, die findet man selten so wie hier versammelt: eine Waage, eine Sanduhr und eine Glocke.

Um den Engel herum verstreut liegen ein paar Werkzeuge – Hammer, Hobel, Richtscheit, Senkblei. Außerdem ein paar geometrische Körper: eine Kugel und ein Polyeder, ein vielflächiges, seltsames Objekt. Links außen, neben dem Polyeder, ist ein Schmelztiegel auf dem Kohlenfeuer zu sehen. Das Werkzeug der Alchemisten, wo aus unedlem Gestein edles Metall gewonnen wird.

Eine Leiter mit sieben Stufen ist an die Hauswand gelehnt, sie führt nach oben aus dem Bild hinaus. Schließlich ist da noch ein verschlafener Hund. Ein ziemlich mageres Tier. Und ein Putto hat sich auch noch ins Bild verirrt.

Magisches Quadrat (Bild: Public Domain, via National Gallery of Art)

Spannend ist außerdem die Wand hinter dem Engel, da ist nämlich ein so genanntes magisches Quadrat eingraviert. Sechzehn Zahlen in vier Reihen und vier Spalten angeordnet. Nicht irgendwelche Zahlen, sondern die Zahlen 1 bis 16. Dieses Quadrat hat es in sich:

Nun ist natürlich die Frage: Was hat sich Albrecht Dürer dabei gedacht? Wollte er Mathematiker und ihre Schüler und Studenten zur Verzweiflung treiben? Wollte er der Nachwelt eine Denksportaufgabe stellen? Hat er die Erfindung des Taschenrechners und des Binärcodes vorhergesehen?

Wollte er uns vielleicht sagen: Auch Engel sind ab und zu abgelenkt, dann nämlich, wenn sie über magischen Quadraten grübeln – also lieber nicht zu fest auf ihren Schutz vertrauen? Das kann es ja wohl nicht sein. Das ist jedenfalls nicht die ganze Wahrheit.

Zur ganzen Wahrheit gehört die strahlende Sonne links oben in der Ecke. Die ist auch nach 1514 an jedem einzelnen Tag, der wurde, wieder aufgegangen. Was hat der Sänger Asaf in Psalm 74 von Gott gesagt: „Dein ist der Tag, dein auch die Nacht; du hast Gestirn und Sonne die Bahn gegeben. Du hast allem Land seine Grenze gesetzt; Sommer und Winter hast du gemacht.“

Die Sonne ist tagtäglich Beweis dafür, dass Gott im Regiment sitzt. Gott hält die Welt in der Balance. Gott hat die Welt weise geordnet und garantiert ihren Bestand.

Zur ganzen Wahrheit gehört der Regenbogen, der sich oben links über den Horizont spannt. Regenbogen hat’s auch schon vor Noahs Zeiten gegeben, aber erst nach der Sintflut hat Gott diese farbenfrohe Lichterscheinung gegenüber Noah mit Bedeutung aufgeladen: Wann immer und wo immer ein Regenbogen am Himmel steht, ist er das Zeichen dafür, dass Gott seinen Geschöpfen die Treue hält. Dass auch wir Menschen auf diesem Planeten eine Zukunft haben.

Zur ganzen Wahrheit gehört: Die Welt ist schön. Gott hat sie großartig geschaffen. Sie ist wunderbar, ist tatsächlich voller Rätsel und Geheimnisse. Und nun kann man sich natürlich mit den Rätseln und Geheimnissen aufhalten. Wie unser schwermütiger Engel im Bild. Man kann sich den Kopf zermartern wie er. Das ist eine Möglichkeit.

Oder, das wäre die andere Möglichkeit: Man kann den Kopf heben und ein wenig nach rechts drehen. Das wäre meine Empfehlung, wenn mich der Engel hören könnte. Ich möchte ihm zurufen: Hör auf zu grübeln, löse deinen Blick vom Unlösbaren, wende die Augen zum Himmel. Zum Regenbogen. Zu diesem göttlichen Versprechen, das Form und Farbe angenommen hat.

Ich will auch nicht verhehlen, dass mir der schwermütige Engel leidtut. Denn wozu ist ein Wesen wie er denn da? Wozu sind Engel geschaffen? Das ist kein Geheimnis, davon spricht zum Beispiel der Hebräerbrief im Neuen Testament. Gleich im ersten Kapitel. Was wird dort von den Engeln ausgesagt? Sie sind „dienstbare Geister.“ Sie stehen Gott jederzeit zur Verfügung.

Zerstreuung wie bei Albrecht Dürers schwermütigen Engel ist nicht vorgesehen. Schwermut und Grübelei ist nichts, woran die mobilen Boten Gottes leiden. Grübeln und Trübsal blasen und schwere Gedanken wälzen, das ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit.

Auch deshalb ist der Engel im Bild zu bedauern. Was nützen ihm seine Flügel, solange er weiter über die Zahlen 1 bis 16 meditiert? Seine Bestimmung ist die Unendlichkeit. Er ist dazu geschaffen, Gott zu dienen und seinen Ruhm auszubreiten. Stattdessen hockt er da und brütet.

Man möchte reinschlüpfen ins Bild, möchte dem versunkenen Denker auf die Schulter tippen, aber das ist vielleicht gar nicht nötig, vielleicht muss man auch nur am Glockenseil ziehen – das ragt ja aus dem Bild heraus, das muss man doch zu packen kriegen. Und ihn damit aufmerksam machen und ihm zurufen: „Da, siehst du den Regenbogen nicht? Vergiss den Zirkel. Überlass die Zahlen den Buchhaltern. Steh auf, breite deine Schwingen aus, flieg!“

Leider kann uns der schwermütige Engel nicht hören. Und so sitzt er seit 508 Jahren dort und denkt und rechnet und kommt dem Geheimnis der Welt nicht auf den Grund – und dem Geheimnis Gottes gleich gar nicht. Aber wir müssen es ihm ja nicht nachmachen. Wir Menschen sind ja auch zu etwas anderem berufen.

Wir sind eingeladen, Jesus nachzufolgen, dem Sohn Gottes, von dem es im Hebräerbrief heißt, dass er „viel höher als die Engel“ ist (Hebräer 1,4) und dass er sich „nicht der Engel annimmt" (Hebräer 2,16) sondern er kümmert sich um die Menschen, die sich ihm anvertrauen. Um Menschen, wie ich einer bin – und wie Sie einer sind. 

Autor/-in: Markus Baum

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