09.09.2020 / Film-Rezension

Der Priester, der aus dem Knast kam

Der polnische Oscar-Beitrag Corpus Christi erzählt die Geschichte eines falschen Priesters, der das Richtige tut.

Einen solchen Priester hat das kleine polnische Dorf noch nicht erlebt: Der blutjunge Pater Tomasz hält Messen und hört Technomusik auf seinem Smartphone. Er hält die Hand von Sterbenden und streckt pöbelnde Jugendliche per Kopfnuss nieder. Er hört schweigend und voller Mitgefühl zu und bringt Trauernde mit einer Art Urschrei-Therapie dazu, ihre Gefühle herauszubrüllen. Pater Tomasz qualmt wie ein Schlot, heimlich kokst er auch schon mal. In der Messe stellt er sich unter den Regen des Weihwassers, das er großzügig verspritzt. Er tröstet und eckt an, improvisiert und verbindet.
 

Pater Tomasz unterm Weihwasser-Regen (Bild: Aurum Film)

Die Dorfbewohner sind zuerst irritiert von dem Aushilfspriester, der für einige Wochen die Gemeinde übernimmt. Doch nach und nach vertrauen sie sich ihm an. Nach einem schweren Unfall, bei dem sechs Jugendliche ihr Leben verloren haben, ist die Dorfgemeinschaft traumatisiert. Trauer, Schuldzuweisungen und Feindseligkeit bestimmen den Alltag der in bleierner Frömmigkeit erstarrten Gemeinde.

Mit großem Einfühlungsvermögen gelingt es Pater Tomasz, die Menschen wieder in Kontakt mit sich selbst, mit den anderen und auch mit dem Glauben zu bringen. Denn mit Schuld und dem Gefühl, ein Ausgestoßener zu sein, kennt sich der junge Priester wohl besser aus als alle Dorfbewohner zusammen.

Niemand in dem Ort ahnt, wer Pater Tomasz in Wahrheit ist: Daniel, ein 20-jähriger Ex-Häftling, der eigentlich in das Dorf gekommen ist, um dort nach Verbüßung seiner Haftstrafe im Sägewerk zu arbeiten. Im Gefängnis hat Daniel zum Glauben gefunden. Er wäre gerne Priester geworden, doch kein polnisches Priesterseminar nimmt einen Bewerber an, der wegen Raub, Körperverletzung und einem Tötungsdelikt im Knast gesessen hat. Aus einer Laune heraus gibt sich Daniel in der Kirche als Priester aus und wird dort spontan als Aushilfspfarrer engagiert, damit der Dorfgeistliche seine Alkoholsucht kurieren kann.

Daniel kennt nur die Messen aus dem Knast und die schlichte Glaubensbotschaft des Gefängnispriesters. Mit viel Improvisationstalent gelingt es ihm trotzdem, den Dorfbewohnern zu vermitteln, woran er inzwischen selbst glaubt: Dass jeder Mensch ein Sünder ist, der allein von der Gnade Gottes abhängig ist. Und dass jeder Mensch, ganz gleich, was er getan hat, aus tiefstem Herzen zu diesem Gott beten kann.

In seiner Rolle als Priester wächst Daniel über sich hinaus und bringt Leben zurück in die Gemeinde, in der vorher nur tote Routine und leere Glaubensfloskeln an der Tagesordnung waren. Er lebt diese neue Berufung mit großer Ernsthaftigkeit und viel Empathie. Bis ihn seine eigene dunkle Vergangenheit am Ende wieder einholt.

Schuld, Moral und Vergebung sind die zentralen Themen, um die sich das Filmdrama Corpus Christi des polnischen Regisseurs Jan Komasa dreht. Die Handlung basiert auf einer wahren Begebenheit. 2011 machte in Polen ein junger Mann Schlagzeilen, der sich monatelang als Priester ausgab, Messen hielt und Sakramente spendete. Davon inspiriert, erzählen Jan Komasa und Drehbuchautor Mateusz Pacewicz in Corpus Christi die Geschichte eines Scharlatans, der Gutes tut. Der Sünder Daniel wird zum Seelsorger anderer Sünder. Seine Fähigkeit zum Mitgefühl entspringt dem Bewusstsein seiner eigenen tiefen Schuld, das ihm trotz seiner Jugend zu bemerkenswerter Reife verholfen hat.

Der hagere Ex-Häftling mit den kurzgeschorenen Haaren und den traurigen Augen ist das verkörperte Leid und findet dadurch Zugang zu anderen Leidenden. In seiner Rolle, in der er vorgibt, Priester zu sein, ist er zugleich ganz er selbst.
 

Mit Corpus Christi tritt ein Film bei der kommenden Oscar-Verleihung an, der mit leisen Tönen von großem innerem Aufruhr erzählt und mit Stille für die größte Spannung sorgt. Neben einzelnen verstörend harten Szenen zu Beginn und am Ende des Films, inszeniert Jan Komasa ein Drama mit ruhigen, sparsamen Bildern und Dialogen, die fast bis zum Zerreißen vom Schweigen zwischen den Worten gespannt sind.

Besonders beeindruckend ist die schauspielerische Leistung des Hauptdarstellers Bartosz Bielenia, der Daniel ausdrucksstark und mit spürbarer Leidenschaft spielt und sowohl dessen harte, dunkle Seite als auch seine Verletzlichkeit und sein Mitgefühl glaubhaft darstellt. Für diese Leistung wurde Bielenia bei mehreren internationalen Filmfesten als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Corpus Christi erhielt beim Polnischen Filmfest 2020 Auszeichnungen in 11 von 15 möglichen Kategorien, was keinem Film zuvor bei diesem Festival gelungen ist.

Nicht nur die spannungsvolle Inszenierung und die hervorragenden Darsteller machen Corpus Christi zu einem sehr sehenswerten Film. Die Fragen zu Sünde, Reue und Barmherzigkeit, die in der Handlung anklingen, wirken auch nach Ende des Films nach. Die Kritik an der Art und Weise, wie kirchliche Institutionen Vergebung und Barmherzigkeit predigen und zugleich an ihrer eigenen Moral scheitern, ist ebenfalls nicht zu übersehen. Es ist dem inhaltsstarken Film zu wünschen, dass er auch über die Oscar-Nominierung als Bester Internationaler Film hinaus Beachtung findet.


Corpus Christi (orig. Boze Cialo)
Polen, 2019
Regie: Jan Komasa
Drehbuch: Mateusz Pacewicz
Darsteller: Bartosz Bielenia, Eliza Rycembel, Lukasz Simlat u.a.
FSK 16
 

Autor/-in: Katrin Faludi

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