26.08.2022 / Porträt

Der jüngste Staatsgefangene der DDR

Mit 15 wird Rainer Wagner bei der Republikflucht erwischt.

Eingesperrt ins Gefängnis – mit gerade einmal 15 Jahren. Das Verbrechen, das Rainer Wagner in den Knast bringt: Der Wunsch, seine Heimat zu verlassen. Aus der DDR fliehen will er, weil er die Bevormundung und Gängelung durch den Staat nicht mehr ertragen kann.

Rainer Wagner ist mit 15 Jahren der jüngste Staatsgefangene der DDR (Foto: ERF)

Aber seine Flucht ist schlecht geplant. Denn Landkarten, auf denen die Grenzposten eingezeichnet sind, waren in der DDR nicht erhältlich. Sie galten als Staatsgeheimnis. Im Rückblick erzählt Wagner: „Die ganze Sache konnte überhaupt nicht klappen. Ich wollte die DDR bei Eisenach verlassen, aber ich hatte keine Ahnung, wo die Grenze verläuft.“ So musste sich Rainer Wagner mit seinem Wissen aus Nachrichtensendungen behelfen.

Er hatte mitbekommen, dass der Fluss Werra die Grenze zur Bundesrepublik bildet. Sein Plan war, die DDR schwimmend durch die Werra zu verlassen. „Ich wusste auch, dass fünf Kilometer vor der Grenze das Sperrgebiet begann. Als es dunkel war, habe ich mich am Abend des 2. Januar 1967 zielstrebig auf diesen Fünf-Kilometer-Streifen zubewegt und bin auch reingekommen“, erinnert er sich.

14 Tage Einzelhaft für den Klassenfeind

Stundenlang irrt er durch das Sperrgebiet. Anhaltspunkte zur Orientierung hat er keine. „Irgendwann tauchte vor mir eine Lichterkette auf. Ich vermute, das war die Grenzbeleuchtung. Da ging ich stracks darauf zu, bis ich auf einmal den Lauf einer Maschinenpistole im Rücken spürte. Ich hab wahrscheinlich irgendwelche Stolperdrähte berührt, so dass man schon nach mir suchte. Schnell war ich von allen möglichen Grenzsoldaten und Offizieren umgeben und musste das erste Verhör über mich ergehen lassen“, schildert er seinen Fluchtversuch.

Vor Gericht gibt sich Rainer Wagner betont rebellisch und trotzig. Er provoziert und erinnert sich noch an die Reaktion: „Jetzt hatten die Richter den Eindruck, einen richtigen Klassenfeind vor sich zu haben. Direkt nach meinem ,Auftritt‘ vor Gericht kam ich in Einzelhaft. Da habe ich vierzehn Tage spüren dürfen, wie sie einen auch psychisch fertig machen können.“

Wegen „versuchten gewaltsamen Grenzdurchbruchs“ bekommt er eine Haftstrafe von einem Jahr und zwei Monaten aufgebrummt. Die Begründung: Als Christ wolle er nicht in einem gottlosen Staat leben, sondern nach Westdeutschland gehen, wo eine wahrhaft christliche Partei die Macht innehatte.

Den Willen brechen

Die erste Nacht im Knast hat sich Rainer Wagner für immer eingeprägt: „Da überkam mich ein Angstzustand, wie ich ihn bisher noch nie erlebt hatte. Ich war einfach nur allein in dieser Zelle, die Klappbetten an der Seite. Das stürzte mit einem Mal gefühlsmäßig auf mich ein. Ich habe einen eisigen Schweißausbruch bekommen. Das war richtig schmerzhaft, wie kleine Nadelstiche. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Das war sicher eine der schwersten Erfahrungen, die ich je gemacht habe.“

In der Gefangenschaft wird er gezielt psychisch unter Druck gesetzt. Man will seinen Willen brechen und ihn gefügig machen. Rainer Wagner beschreibt, wie es sich angefühlt hat, in einer Zelle eingesperrt zu sein: „Die Türen von außen sind ja schon recht bombastisch, angefangen mit diesen großen Riegeln und den großen Schlössern. Das Aufschließen dieser Gefängnistüren machte ausgesprochen viel Lärm und das hat irgendwie einen psychologischen Eindruck auf die Gefangenen gemacht und natürlich auch auf mich. Da gab es von innen weder einen Schlüssel noch eine Türklinke, und das bedeutete: Hier kommst du nie raus, wenn nicht von außen jemand aufmacht. Man fühlte sich wirklich in jeder Hinsicht eingesperrt.“

Bei einem Besuch der Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen, in der sich die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit befand, erinnert sich Rainer Wagner. Ein beklemmender Moment:

Nach einem Jahr und zwei Monaten Haft kommt Rainer Wagner frei. Doch schon kurze Zeit später unternimmt er den nächsten Fluchtversuch. Erneut erlebt er die ganze Härte des DDR-Strafsystems. „Ich habe öfter Einzelhaft erleben müssen. Das bedeutete, dass die Zelle nur halb so groß war, die Decke etwas niedriger und das Bett an die Wand geklappt. Man musste den ganzen Tag mit dem Blick zur Tür auf einem Hocker sitzen“, erzählt er.

Im Gefängnis an Asthma und Neurodermitis erkrankt

Dieser zweite Aufenthalt im Gefängnis setzt Rainer Wagner enorm zu. „In dieser Zeit ist mir klargeworden: Wenn du hier nicht bald rauskommst, hast du hinterher mit Sicherheit irgendeinen Schaden. Da habe ich dann zum ersten Mal gebetet: ,Gott, wenn es dich gibt, dann schenk, dass sich die Tür öffnet. Mach, dass ich hier rauskomme. Wenn du das machst, werde ich entweder Pfarrer oder katholisch.‘ Und so seltsam das Gebet gewesen ist, Gott hat es erhört. Eine Woche nachdem ich das gebetet habe, wurde ich entlassen. Und ich bin nie dahinter gekommen, was der äußere Anlass war“, berichtet er.

Trotzdem hinterlässt die Haftzeit gesundheitliche Spuren bei Rainer Wagner. Einige Erlebnisse im Gefängnis traumatisieren ihn nachhaltig. Einmal muss er miterleben, wie ein Mithäftling von anderen Gefangenen gefoltert wird. Aus Angst schaut er einfach weg. Das Ereignis und andere Erlebnisse stürzen ihn in Depression und Selbstmordgedanken.

Aufgrund der schlechten Haftbedingungen leidet er bis heute unter Asthma und Neurodermitis: „Die Gefängniszeit hat gesundheitliche Folgen mit sich gebracht. Die sind mittlerweile auch anerkannt: Asthma und Neurodermitis aufgrund der Art, wie wir dort arbeiten mussten – bei Kälte und Nässe und allen möglichen Schwierigkeiten. Dazu kommen psychische Belastungen, die gelegentlich auftreten. Zum Beispiel wenn ich irgendwelche Filme oder Berichte über Konzentrationslager mitkriege.“

„Gott gedachte, es gut zu machen“

Trotzdem blickt Rainer Wagner ohne Verbitterung zurück auf seine Zeit im Gefängnis. „Die Bibel sagt mal, dass ,denen, die Gott dienen, alle Dinge zum Besten dienen'. Das ist auch dort geschehen. Im Alten Testament sagt Josef: Menschen gedachten es böse, Gott aber gedachte es gut zu machen. Letztlich war es eine Hilfe auf dem Weg zu Jesus. Was es allerdings nicht kleiner macht, dass ich es für ein Verbrechen halte, dass die Kommunisten 15- und 16-Jährige als politische Häftlinge eingesperrt haben.“

Aus diesem Grund engagiert Rainer Wagner sich heute aktiv in DDR-Opferverbänden. Denn das Unrecht zu vergeben heißt für ihn nicht, es zu vergessen. Für sein Engagement hat er 2004 das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten.

Autor/-in: Claas Kaeseler

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