29.08.2014 / Interview

Den Missbrauch hinter sich lassen

Tipps für den Umgang mit Folgen sexueller Gewalt. Ein Interview mit ERF Seelsorger Heino Welscher.

In unserer Talk-Sendung ERF MenschGott erzählt Esther davon, wie sie als Kind von ihrem Vater missbraucht wurde. Missbrauchsopfer brauchen oft viele Jahre, um mit dem erlittenen Trauma umzugehen. Wir haben mit ERF Seelsorger Heino Welscher über das Thema Missbrauch gesprochen.

ERF: Wie wirkt sich Missbrauch auf den Selbstwert eines Menschen aus?

Heino Welscher: Bei Missbrauch muss man davon ausgehen, dass eine Person über die andere herrschen will. Es geht um Machtausübung und Erniedrigung. Derjenige, der missbraucht wird, fühlt sich in dem Moment erniedrigt, bestimmt und erlebt, dass diese andere Person Macht über ihn ausübt. Das kann auch schon bei kleinen Kindern passieren, unabhängig davon, ob sie es verbal äußern können. Trotzdem fühlt sich die missbrauchte Person in dem Moment wertlos. Weil man etwas mit ihr macht, was sie eigentlich nicht will. So entsteht ein mangelndes Selbstwertgefühl.

Ein Missbrauch früh in der Kindheit kann sogar dazu führen, dass die missbrauchte Person gar keinen Selbstwert entwickeln kann. In so einem Fall leidet die Person so lange unter dem Gefühl „Ich habe keinen Selbstwert. Ich bin nichts, ich kann nichts. Ich bin erniedrigt, andere haben Macht über mich", bis er oder sie daran arbeitet.

Missbrauch kann zu Misstrauen gegenüber Gott führen

ERF: Ändern sich die Beziehungen zu anderen Menschen durch eine Missbrauchserfahrung?

Heino Welscher: Ja, ganz stark. Und je enger die Beziehung zu der Person, die einen missbraucht – Vater, Onkel, Bruder –, desto mehr geht die Beziehungsfähigkeit kaputt. Denn eine Beziehung fußt auf Vertrauen.

Wenn dieses Vertrauen zerstört wird, ist ein Mensch nicht mehr beziehungsfähig. Er geht beispielsweise Beziehungen ein, die in der Regel scheitern werden. Oder er sagt von vornherein: "Ich habe Angst vor einer Beziehung, das darf mir nicht wieder passieren. Also gehe ich gar keine Beziehung mehr ein."


ERF: Wie beeinflusst denn Missbrauch den eigenen Glauben?

Heino Welscher: Das hängt einerseits mit dem Vertrauen zusammen. Andererseits damit, dass Gott als männlich dargestellt wird: Gott, der Vater. Je nachdem, welche Bezugsperson einen missbraucht hat, überträgt man diese Erfahrungen automatisch auf Gott. Dadurch entsteht auch in diesem Bereich eine Beziehungskrise. Das kann dazu führen, dass man gerade in Notsituationen Schwierigkeiten hat, Gott zu vertrauen. Viele stellen Gott auch die Frage: "Warum lässt Gott das zu?" oder "Warum hat er das damals zugelassen?" Das ist im Grunde eine Misstrauensfrage.

Email-Seelsorge ist empfehlenswert

ERF: Warum holen sich so viele Menschen trotz der schwerwiegenden Auswirkungen keine Hilfe?

Heino Welscher: Gerade bei sexuellem Missbrauch entsteht ein sehr starkes Schamgefühl. Man schämt sich einfach, es jemandem zu erzählen. Wenn es ein enger Verwandter war, kommt auch häufig noch die Drohung dazu: "Wenn du das einem sagst, kommt der Papa oder Onkel ins Gefängnis." So wird zusätzlich Druck aufgebaut. Und es gibt noch einen dritten Punkt, der uns immer wieder durch die Medien vermittelt wird. Man glaubt den Kindern oder der missbrauchten Person nicht.
 

ERF: Was sind Schritte, um sich aus einer solchen Spirale zu befreien?

Heino Welscher: Ein erster Schritt ist sicher das Gebet – gerade für Christen. Es geht darum, Gott zu bitten, mir Kraft zu geben. Der nächste Schritt ist, sich einer Person zu öffnen, der man vertraut, und ihr zu sagen, was passiert ist. Es ist hilfreich, den ersten Kontakt per Email herzustellen. Das haben wir bei uns in der Email-Seelsorge festgestellt. Da bleibe ich erst mal anonym. Der andere weiß nicht, wie ich heiße oder wo ich wohne. Aber ich kann die ersten Schritte wagen und beginnen, darüber zu sprechen.

Missbrauch hinter sich lassen

ERF: Wie kann ich ein solches Trauma erfolgreich bearbeiten, so dass ich wieder beziehungsfähig werde?

Heino Welscher: Das ist bei den meisten Personen ein längerer Weg. Das geht nicht von heute auf morgen. Ich glaube, man muss mit diesem „beherrscht-werden“ fertig werden. Als Missbrauchsopfer wurde man beherrscht. Man muss das überwinden und sich sagen: "Ich lasse mich nicht mehr beherrschen, ich werde nicht mehr beherrscht". Der Knackpunkt ist, sich mit dem beherrscht bzw. erniedrigt werden auseinanderzusetzen.

Wenn man dann noch erfährt, dass man vor Gott wertvoll ist – dass man Gott sozusagen einen Christus wert ist –, dann kann man lernen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aufarbeiten kann man so etwas im Grunde nicht. Man kann ja nichts rückgängig machen. Man kann nur einen Schnitt machen und nach vorne schauen und dann anders reagieren.


ERF: Missbrauch bedarf Seelsorge und Nachsorge. Wo finde ich denn diese Hilfe?

Heino Welscher: Ich würde eine Adresse angeben: das Weiße Kreuz in Kassel. Da kann man per Email hinschreiben oder man geht direkt auf die Internetseite des Weißen Kreuzes. Dort sind eine ganze Menge Beratungsstellen in Deutschland aufgeführt. Da wird man auch in der Nähe etwas finden. Das ist eine gute erste Anlaufstelle.


ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

Sie haben Missbrauch erlebt und denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier finden Sie Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote.

Sie stecken in einer schwierigen Lebenssituation und suchen konkrete Hilfe? Schreiben Sie uns eine E-Mail oder nutzen Sie unser Seelsorge-Portal.

Autor/-in: Claas Kaeseler

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