23.09.2023 / Wort zum Tag

Das kannst du vergessen

Paulus schreibt: Ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist.

Philipper 3,13

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Demenz – eine niederschmetternde, furchtbare Diagnose. Letztlich immer noch nicht heilbar. Wem sie gilt, der möchte alles, nur nicht etwas vergessen. Der wird alles daransetzen, sich weiter erinnern zu können. Vor allem das im Gedächtnis zu behalten, was ihn ausmacht. Die wertvollen Erlebnisse, die die Persönlichkeit prägen. Die wichtigen Erfahrungen, die die Lebensgeschichte beeinflussen. Und vor allem die geliebten Menschen, die das Herz und das Leben erfüllen. Aber mit der Diagnose Demenz ahnt man es, man muss es befürchten: Das Erinnern wird immer weniger gelingen. Nach und nach wird alles verschwinden, was einen Menschen in seinem eigenen Bewusstsein zu dem macht, was er ist. Erinnerungen sind so wichtig. Sie machen uns aus.

Ja, es gibt auch Erfahrungen, die will ich lieber vergessen. Verletzungen, Kränkungen, Erniedrigungen. Krisen, Unfälle, Krankheiten. Aber klar ist: Das geht nicht so einfach. Und das ist letztlich wohl auch gut so. Denn auch die Erinnerungen an Negatives machen mich ja aus. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch.

„Lieber Paulus, wenn ich das bedenke: Vielleicht war dann dieser Gedanke keiner deiner Sternstunden: „Ich vergesse, was dahinten ist.“ Das wird dir nicht gelingen. Auch was du warst und nicht mehr bist, macht dich noch aus. Du wärst nicht der Heidenapostel geworden ohne deinen fanatischen Eifer für das jüdische Gesetz. Du wärst nicht so ein konsequenter und vorbildlicher Christusnachfolger geworden, wenn du nicht zuvor so ein konsequenter und verbohrter Christusverfolger gewesen wärst. „Ich vergesse, was dahinten ist.“ Du bist ja nicht naiv. Und du bist auch nicht dement geworden. Das kannst du also mit diesem Satz nicht gemeint haben. Aber was dann?“

Paulus meint offenbar ein anderes „Vergessen“. Paulus will nichts verdrängen und steht auch weiter zu seiner Vergangenheit. Aber er hat diese Vergangenheit doch überwunden. Es gibt ein Erinnern, das mich an das fesselt, was ich doch als falsch erkannt habe. Es gibt ein Erinnern, durch das ich mich selbst auf etwas festlege, was ich doch als überwunden glaubte. Weil ich es als falsch erkannt habe.

In diesem Sinne will Paulus „vergessen“, was ihn binden will. Seine Erziehung und pharisäische Prägung. Seinen Stolz auf die Beschneidung. Seine Einbildung auf eine perfekte und untadelige Lebensführung. Das alles hat sich für ihn als brüchiges Fundament seines alten Lebens erwiesen. Darum „vergisst“ er es. Das bedeutet: Er bildet sich darauf nichts mehr ein. Es ist ihm wie Unrat geworden.

Im Griechischen steht da ein Wort, dessen korrekte Übersetzung ins Deutsche mit „Sch…“ beginnt. Aber wie gelingt ihm das? Paulus sagt: Er vergisst es „um Christi willen“. Das heißt: Er streckt sich auf ein neues Ziel hin aus, das Jesus ihm steckt. Er jagt ihm nach. Das Alte kann ihn eben nicht mehr binden, festlegen, behindern. Was ist dieses Ziel? Es ist das Leben in Gottes Herrlichkeit. Dazu hat ihn Gott berufen. Aber nicht nur ihn. Paulus schreibt das den Philippern, weil es auch ihnen gilt. Und damit allen, die an Jesus glauben. Hier geht es nicht ums Vertrösten aufs Jenseits. Sondern es geht um eine unermessliche Kraft von Gott. Sie lässt mich fröhlich glauben und leben. Selbst in Augenblicken, an die ich mich später ungern erinnere. Und selbst in Verhältnissen, die ich echt vergessen kann.

Autor/-in: Pfarrer Jens Brakensiek