07.03.2012 / Themenreihe Christsein und Behinderung

Christsein und Behinderung

Menschen mit Behinderung scheinen in Gemeinden oft nicht gut integriert zu sein. Dabei braucht es keine großen Aktionen, um das zu ändern.

Die Debatte hatte Mitte letzten Jahres für Wirbel gesorgt: Im fränkischen Bruckberg wollten Eltern ihre gesunden Kinder nicht gemeinsam mit geistig Behinderten konfirmieren lassen – obwohl dies seit Jahrzehnten im Ort so üblich ist. Ein Vorzeige-Dorf in Sachen Inklusion und Gemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung. Mittlerweile ist der Streit beigelegt. Der Gottesdienst wird doch noch stattfinden  - und zwar gemeinsam. Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt die Sache dennoch.

Als ich von dieser Geschichte erfuhr, war ich entsetzt: Was für arrogante Eltern, die sich und ihre Kinder für etwas Besseres halten! Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr musste ich mir eingestehen: Auch wenn ich das Verhalten nicht gutheiße, kann ich es ein Stück weit nachvollziehen. Auch ich habe meine Schwierigkeiten, wenn ich Menschen mit geistigen Behinderungen begegne.

Zugegeben, das kommt nicht häufig vor, aber vermutlich liegt genau darin das Problem: Ich bin verunsichert, wie ich mich der Person gegenüber verhalten soll. Was versteht sie überhaupt? Was mache ich, wenn sie mich etwas fragt und ich es nicht verstehe? Was, wenn sie mich plötzlich umarmt? Ich habe Angst. Ich bin überfordert. Und das lässt mich auf Abstand gehen. Das ist keine böse Absicht, sondern einfach Unsicherheit. Streng genommen bin ich hier die Behinderte.

Interessanterweise stellt sich dieses Problem bei mir nur, wenn ich Menschen mit geistigen Behinderungen begegne. Mit körperlichen Behinderungen habe ich überhaupt kein Problem. Der Grund: Meine Schwester trägt eine Beinprothese, genauer gesagt eine Umkehrplastik. Diese Art Prothese sieht ziemlich schräg aus und schreckt viele Menschen im ersten Moment ab – für mich ist es das Normalste der Welt. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Was man von klein auf kennen gelernt hat, ist vertraut. Das Fremde hingegen irritiert.
Wahrscheinlich bin ich mit diesen Gefühlen nicht alleine. Und wahrscheinlich sind sie der Hauptgrund dafür, dass sich Menschen mit Behinderung in Gemeinden und Kirchen isoliert fühlen. Doch was kann ich als Gemeindemitglied tun, um das zu ändern?

Die Liebe zum Nächsten – kein theoretisches Gebot

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Dieses Gebot ist Jesus unheimlich wichtig. Er stellt es in Matthäus 22,39 sogar auf eine Stufe mit dem höchsten Gebot, Gott von Herzen zu lieben. Wie diese Nächstenliebe konkret aussehen kann und wer überhaupt mein Nächster ist, macht Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter deutlich, das er einem Pharisäer erzählt (Lukas 10,29-37). Eine Geschichte, die mehr mit dem Thema Behinderung zu tun hat, als man gemeinhin denkt:

Ein Reisender wird auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallen, geschlagen und halbtot liegen gelassen. Nacheinander kommen ein Priester und ein Levit vorbei. Beide machen einen großen Bogen um den Verletzten. Erst ein Samariter kümmert sich liebevoll um den Verletzten, bringt ihn in eine Herberge und dafür sorgt, dass er sich vollständig auskurieren kann.

Das Gleichnis macht mir verschiedene Dinge deutlich:

Mein Nächster ist nicht nur derjenige, den ich sowieso schon mag: meine Schwester, mein Onkel oder mein Freund. Sondern derjenige, den Gott mir in den Weg stellt – ob diese Person nun schwarz oder weiß, reich oder arm ist, ein Handicap hat oder nicht. Ich persönlich bin aufgerufen, die Liebe Jesu ganz praktisch an meinen Nächsten weiterzugeben. Dass er merkt: Ich gehöre dazu, wie jeder andere auch. Deshalb endet Jesus das Gespräch mit dem Pharisäer mit den Worten: Geh und handle ebenso (Lukas 10,27).

Und noch etwas macht mir das Gleichnis deutlich: Wir können oft von Menschen lernen, von denen wir es nicht erwarten. Jesus fordert den Pharisäer auf, sich ein Beispiel an dem Samariter zu nehmen. Das muss in dessen Ohren unglaublich geklungen haben – schließlich waren die Samariter seiner Meinung nach Menschen zweiter Klasse. Genauso fragt sich manch einer, was er von einem geistig Behinderten lernen kann. Dabei gibt es da einiges:

Zum Beispiel leben viele Menschen mit Behinderung ihren Glauben genau so, wie Jesus es sich wünscht: wie die Kinder (Matthäus 18,3). Sie sind verliebt in Jesus, glauben und lieben Gott bedingungslos. Sie schenken ihm ihr ganzes Vertrauen. Letztlich glauben sie auf eine Art und Weise, wie es mir oft unmöglich scheint. Mein Glaube ist viel zu verkopft. Außerdem strahlen Menschen mit Behinderung häufig eine unglaubliche Lebensfreude und Dankbarkeit aus. Manche von ihnen sind in bestimmten Lebensbereichen überdurchschnittlich begabt. Wer also meint, in Menschen mit geistiger Behinderung nur investieren zu müssen, ohne etwas zurück zu bekommen, der irrt gewaltig.

Integration durch persönlichen Einsatz statt großer Aktionen

Wie kann ich diese Nächstenliebe, die Jesus veranschaulicht, nun praktisch umsetzen? Ich denke, dass es keine großen Aktionen braucht, um Menschen mit Behinderung zu integrieren. Eine Gemeinde muss kein Sonderprogramm auf die Beine stellen. Die meisten Gemeinden hätten dafür auch gar nicht die Kapazitäten. Integration fängt bei mir ganz persönlich an. Denn die Aufforderung, so barmherzig wie der Samariter zu handeln, gilt nicht nur geschulten Diakonen oder den Seelsorgern der Gemeinde. Es gilt jedem Gemeindemitglied – allen voran mir persönlich. Das heißt nicht, dass ich zwanghaft den Kontakt zu einem Menschen mit Behinderung suchen muss, wenn ich niemanden kenne. Aber wenn jemand beispielsweise neu in meine Gemeinde kommt und so zu meinem Nächsten wird, kann ich diese Chance nutzen.

Ich baue Berührungsängste schließlich nur ab, wenn ich Berührung habe und das Fremde langsam zum Vertrauten wird. Von daher liegt es an mir, meine Hemmschwelle zu überwinden, mein Gegenüber offen und freundlich anzusprechen, auf einen Tee mit Freunden einzuladen oder den Eltern von Kindern mit Behinderung praktisch unter die Arme zu greifen.

Dieses Aufeinanderzugehen muss aber nicht einseitig sein. Auch alle Menschen mit Behinderung und deren Angehörige oder Freunde sind gefragt, aktiv den Kontakt und die Integration zu suchen, das Thema anzusprechen und sich durch Rückschläge nicht entmutigen zu lassen.
So mit Behinderten umzugehen, steht im Übrigen unter einer besonderen Verheißung. Wer sich für seinen Nächsten einsetzt, dem verspricht Jesus:

„Wer einen Propheten aufnimmt, weil er ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten erhalten. Wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, wird den Lohn eines Gerechten erhalten. Und wer einem von diesen gering Geachteten auch nur einen Becher kaltes Wasser zu trinken gibt, einfach weil er mein Jünger ist, der wird – das versichere ich euch – nicht ohne Lohn bleiben.“ Matthäus 10,40-42

Grund genug, seine Vorbehalte einmal hinten anzustellen.


Welche Erfahrungen haben Sie gemacht: Wie sind Menschen mit Behinderung in Gemeinden und Kirchen integriert? Welche Ideen haben Sie, um das Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Behinderung natürlicher und freundlicher zu gestalten? Schreiben Sie einen Leserbrief und lassen Sie uns und unsere Leser daran teilhaben.


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