18.07.2022 / Wort zum Tag

Charakter einer Stadt

Jeremia sprach: Mich jammert von Herzen, dass die Tochter meines Volks so zerschlagen ist. Ist denn keine Salbe in Gilead oder ist kein Arzt da?

Jeremia 8,21.22

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Städte haben Charakter. Vielleicht haben Sie auch die Erfahrung gemacht. In drei Städten habe ich längere Zeit gewohnt und jede hat ihren eigenen Charakter. Stralsund ist meine Heimatstadt. Ich hatte dort zwei verschiedene Arbeitsstellen. Das Gemeinschaftshaus befindet sich in der alten Stadtmauer. Dort habe ich Glauben gelernt. Und natürlich denke

ich an meine elterliche Wohnung, in der ich mit zwei Geschwistern groß geworden bin. Stralsund wird immer meine Stadt bleiben. Wenn ich in den Norden fahre und die ersten typischen roten Backsteinbauten zu sehen sind, schlägt mein Herz höher. Die Stadt hat sich weiterentwickelt und doch verbinden sich für mich immer noch Erinnerungen mit Orten und Menschen.

Nach einigen Zwischenstationen wohne ich jetzt in Dresden. Ich liebe diese Stadt. Sie ist mit viel Mühe und Einfühlungsvermögen nach dem II. Weltkrieg wieder aufgebaut worden und wird es immer noch. Manchmal, wenn ich den berühmten Canaletto-Blick auf Schloss, Hofkirche und Brühlsche Terrassen genieße, kommt Dankbarkeit in mein Herz. Dankbarkeit darüber, dass wir Frieden haben und ich hoffe und bete, dass es noch lange so bleibt.

In dem heutigen Bibelwort klagt Jeremia über das nicht zu verhindernde schreckliche Ende der Stadt Jerusalem: „Mich jammert von Herzen, dass die Tochter meines Volks so zerschlagen ist. Ist denn keine Salbe in Gilead oder ist kein Arzt da?“ (Jer. 8,21f) Drei Gedanken dazu:

1. Jerusalem ist eine schöne Stadt.

Städte wurden damals öfter als eine weibliche Person beschrieben. Wenn Jeremia von der „Tochter meines Volkes“ spricht, meint er Jerusalem. Das ist ein poetischer Ausdruck. Wie ein Gedicht über etwas Schönes. Ein Ehrentitel. Damals stand ja noch der Tempel auf dem Berg Zion mitten in der Stadt. In dieser Stadt – in dieser „Tochter meines Volkes“ - pulsierte das Leben. Damit war nicht nur das Stadt-GEBIET gemeint, sondern die Menschen, das Volk. Die Beziehungen der Menschen untereinander. Die Beziehung zu Gott. Jerusalem als Mittelpunkt der Geschichte Israels mit Gott und eben Gottes Geschichte mit ihnen.

Damit ist der zweite Gedanke verbunden:

2. Jerusalem ist verloren.

Das ostjordanische Bergland Gilead – darauf nimmt Jeremia Bezug, wenn er sagt: „Ist denn keine Salbe in Gilead oder ist kein Arzt da?“ – dieses Gilead war bekannt für die dort wachsenden Heilkräuter. Bildlich gesprochen: Selbst die großartigen Salben aus Gilead helfen nicht mehr. Keine Heilung, keine Besserung in Aussicht. – Warum? Israel hat sich über Jahrhunderte konsequent von Gott abgewandt. Fürsorge und Schutz nahmen sie wie selbstverständlich in Anspruch. Für eine echte Beziehung verschlossen sie sich immer mehr. Die Folgen waren kaputte Beziehungen der Menschen untereinander, Korruption, Unterdrückung, Armut, Unfrieden. Und jetzt drohte Krieg. Zu mehr als Hilfeschreien und Vorwürfen Gott gegenüber konnte sie sich nicht mehr aufraffen. Und ließen so, Gott, ihren einzigen tatsächlichen Helfer und Arzt, immer noch außen vor. – Könnte fast eine Beschreibung unserer Gesellschaft heute sein.

Das Entscheidende ist jedoch:

3. Jeremia liebt Jerusalem.

Er sagt: „Weil mein Volk zusammengebrochen ist, ist mein Herz zerbrochen.“ Der Schlag, der Jerusalem trifft, trifft ebenso den Propheten. In dieser tiefen Trauer wird die Liebe Jeremias zu seinem Volk deutlich.

Er steht da und kann nichts machen und fühlt so sehr mit. Dieses Mitgefühl berührt auch mein Herz. Ich sehe dahinter die Liebe Gottes. Jerusalem ist trotz Zusammenbruch nicht alleine.

Autor/-in: Karsten Hellwig