24.04.2023 / Wort zum Tag

Bis zum Morgen

Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.

Psalm 130,6

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„Wann bekomme ich endlich mal eine Zusage auf eine Bewerbung?“ fragt der eine. - Und die andere: „Wann kommt es endlich zu einer versöhnlichen Aussprache mit dem Menschen, der seit diesem Streit damals einfach nicht antwortet?“ - Da hofft jemand: „Wann schlägt die Therapie endlich an?“ - Oder: „Wann werden endlich keine Lebensmittel mehr weggeworfen?“ - „Wann gibt es endlich Frieden?“ - Hoffnungen, Fragen, Sehnsüchte.  Können wir sie nicht ein bisschen anschieben!

Die langen Nachtstunden ein bisschen anschieben - das wollten wohl auch die Wächter gern, von denen im Psalm 130 die Rede ist.

„Meine Seele wartet auf den Herrn,“ heißt es da, „mehr als die Wächter auf den Morgen.“           

Die Wächter damals in Israel mussten die ganze Nacht hindurch im Ausguck an der Stadtmauer stehen. Jeder ganz allein. Und sie durften nicht einschlafen. Sie mussten die ganze Nacht hindurch wach bleiben und aufpassen. Damit die anderen beruhigt schlafen konnten. Die Wächter waren auf ihren Posten, verteilt um die Stadtmauer, aber jeder für sich. Und die Menschen wussten: Die schlafen nicht. Die sind da. Bis zum Morgen. Bis es wieder hell wird. Und keine Minute weniger. Die Wächter halten aus. Und die Stunden schleichen dahin. In der Dunkelheit. In den Schatten. Die Nacht ist voller Geräusche. Und es ist noch so lange bis zum Morgen. Kommt er überhaupt? Die Zeit will nicht vergehen.  Alles scheint still zu stehen. Nur ich muss hier aushalten. Und der nächste Wächter ist kaum in Rufweite. Es ist kalt. Und so dunkel. Die bedrohlichen Schatten der Nacht ziehen sich um mich zusammen. Ach, wann kommt der Morgen? Wann endlich? Diese Nacht nimmt kein Ende. Und ich bin allein.

Und dennoch: der Wächter vertraut darauf: der Morgen kommt. Auch, wenn mir seine Ankunft jetzt unmöglich scheint. Der Wächter sieht durch die Nacht hindurch.

Und so, sagt dieser Beter aus dem Alten Testament, genauso wartet meine Seele auf den Herrn.

Und diese überlieferten Worte, so wird im neuen Testament betont, sind für uns wie ein Licht, das in der Dunkelheit leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht.

Denn so, wie der Psalmbeter schon auf den Gott Israels vertraut hat, so können wir vertrauen auf den, den Er gesandt hat: Jesus Christus. Er, der all´ unsere Nächte auf sich nahm, wird kommen wie der Morgen.

Am Morgen kommt die Erlösung für die Wächter an der Stadtmauer. Das hat der Beter des Psalms damals immer wieder miterlebt: er hat es gesehen: die Erleichterung und Dankbarkeit in den Augen, er hat es gehört: das befreite Aufatmen, wenn die Wächter am Morgen ihre Wache hinter sich haben, wenn sie erlöst sind von der langen Nacht.

Und darum betete der Psalmdichter: So bist du für mich, mein Gott: wie der Morgen für den Wächter! So wartet meine Seele auf Dich, und ich weiß: Du machst alles hell, wenn die Nacht mir auch noch so endlos erscheint! Ich sehe durch die Nacht hindurch auf Dich!    

Autor/-in: Pfarrerin Christine Weidner