31.07.2022 / Andacht

Befreiungsschlag

Warum ich lieber meine Gaben auslebe als Notbesetzung zu sein

Manchmal habe ich den Eindruck, das Leben besteht aus lauter Lücken, die ich füllen soll. In der Gemeinde wird sonntags nach einem Mitarbeiter für das Kinderteam gefahndet. Meine Freundin fragt, ob ich eine Lampe anbringen kann. Bei der Arbeit soll ich als „Onliner“ ein kleines Programm schreiben. Und meine Familie will wissen, ob ich nicht einen juristischen Text aus einer anderen Sprache übersetzen kann.

Ich habe gar kein Problem damit, dass man mich um Hilfe bittet. Ich helfe gerne, wo ich kann. Aber schwierig finde ich, wenn es Dinge sind, die ich gar nicht kann. Gerade in der Gemeinde habe ich oft das Gefühl, dass viele sich für eine Aufgabe zur Verfügung stellen – einfach aus dem Grund, weil ein Mangel besteht, den man als guter Christ auszufüllen hat. Diese Hilfsbereitschaft kann etwas Tolles sein.

Viel zu häufig ist es aber nur Mängelverwaltung. Statt nur aus Verlegenheit nach einer passenden „Besetzung“ für die Lücke zu suchen, sollten wir darauf schauen, welche Begabungen oder Stärken wir haben, und dann nach den sich daraus ergebenden Wirkungsbereichen oder Aufgaben fragen.

Mit der Bibel „Nein“ sagen lernen

So wird häufig die Not zum Ersatz für die Berufung. Das ist keineswegs ein Problem der Neuzeit. Schon in der Bibel lesen wir davon, dass Menschen unterschiedlich begabt sind – und man sie am besten gemäß ihrer Fähigkeiten einsetzt. „Jedem Einzelnen von uns aber hat Christus besondere Gaben geschenkt, so wie er sie in seiner Gnade jedem zugedacht hat“ (Epheser 4,7).

In Vers 11 macht Paulus die praktischen Konsequenzen dieser spezifischen Begabung deutlich. So ist nicht jeder zum Gemeindeleiter oder Lehrer berufen.

Das Wissen, dass man nicht alles können und tun muss, kann ungemein befreiend wirken. Nur weil mein Freund jedes handwerkliche Problem löst, muss ich das nicht auch können. Ich muss auch nicht im Kinderdienst mitarbeiten und dann ausbrennen, weil mich das überfordert. „Nein“ sagen muss man lernen – ich bin überzeugt, dass diese Passage aus dem Epheserbrief dazu beitragen kann.

Ich kann mich von einem falsch verstandenen Verantwortungsgefühl entlasten und sogar meinen Selbstwert steigern. Denn wenn ich weiß, dass ich nicht alles genau so gut beherrschen muss, wie das, was meinen Freunden scheinbar spielerisch von der Hand geht, kann ich befreit aufatmen.

Bin ich an der richtigen oder nur an einer wichtigen Stelle?

Ich darf mich stattdessen auf die Aufgaben konzentrieren, die mir wirklich Freude machen – und zu denen ich begabt oder sogar berufen bin. Das Bild vom Leib, das Paulus im Epheserbrief zeichnet, macht genau das deutlich. Nicht jeder ist ein Mund – und Gott sei Dank muss auch nicht jeder ein Mund sein.

Ich darf mich selbst ganz realistisch einschätzen. Damit wirke ich gleichzeitig Ohnmachtsgefühlen und Selbstabwertung entgegen. Ich werde nicht nach meiner Wichtigkeit, sondern nach meiner Wesentlichkeit bewertet. Es ist viel wichtiger, ob ich an der richtigen Stelle bin als an einer wichtigen.

Ich muss nicht im Scheinwerferlicht stehen. Aber der „Star“ würde gar nicht leuchten können, wenn da nicht jemand wäre, der im Hintergrund den Scheinwerfer bedient. Das kleine Zahnrad hat in einem Uhrwerk ebenfalls eine entscheidende Bedeutung. Jesus hat jeden von uns beschenkt mit Dingen, die wir können, und Dingen, die wir nicht können.

Wir dürfen bei vielen Anfragen befreit „Nein“ sagen – denn es ist schlicht nicht unsere Aufgabe, nur irgendwelche Löcher zu stopfen. Wir dürfen das uns geschenkte Potential entdecken, entfalten und darin aufblühen. So hat Jesus sich das gedacht. Das zu begreifen hilft uns, zufrieden, erfüllt und konsequent der sein zu können, der wir sind – nämlich wir selbst.

Autor/-in: Claas Kaeseler

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