16.10.2018 / Wort zum Tag

Anders sehen lernen

Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht.

Johannes 7,24

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Ein weltbekannter Solist spielte in einer Fußgängerzone mit seiner Violine. Mitten auf der Straße. Zwischen all den Leuten. Da wo das Leben tobt. Nur: Niemand nahm Notiz von ihm. Keiner erkannte die virtuose Spielweise. Niemand erkannte die Einmaligkeit der Töne, die er auf seinem Instrument hervorbrachte. Niemand konnte diese einmalige Darbietung genießen. Die Leute gingen vorbei.

Wie kommt das? Der Musiker stand einfach und bescheiden an einer Straßenecke. Keine Scheinwerfer, keine Bühne, kein Orchester. Von den Passanten wurde er schnell eingeordnet: „Der steht nur da und bettelt!“

Was war geschehen? Im Bruchteil einer Sekunde erkenne ich die Situation und im Bruchteil einer Sekunde läuft bei mir ein ganzer Film ab. Meine Meinung über Bettler, meine Erfahrungen, Erlebnisse, Vorurteile – alles kommt zusammen und sagt: Schnell weiterlaufen! Meine eigene Beurteilung der Lage hat mich um einen unwiederbringlichen Kunstgenuss gebracht. Schade! Hätte ich die Situation anders sehen können?

Im Evangelium des Johannes, Kapitel 5, Vers 16 wird erzählt, dass Jesus einen Menschen geheilt hat, der lange krank war. In den Augen der Menschen, die das miterlebt hatten, war dies eine Unverschämtheit. Nicht die Heilung an sich, aber am Sabbat, an dem jegliche Arbeit verboten war? Unmöglich! Was ist das für einer, der sich nicht an die allgemeine Ordnung hält?

Jesus hält ihnen vor: „ Urteilt nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern urteilt gerecht“! Wieso das jetzt? Ist es denn nicht gerecht, ein Verbot zu achten? Ist es denn nicht gerecht, dass man sich an Ordnungen hält? Was war geschehen? Jesus kannte sehr wohl das Arbeitsverbot am Sabbat. Aber er sah gleichzeitig noch eine andere Realität, die ihm wichtiger war: Das Elend eines Menschen, der jahrelang gelähmt war. Der keine Lebenschance und keine Perspektive hatte. Dem die Türen zu einem normalen Leben verschlossen waren. Der verachtet und außerhalb des öffentlichen Lebens geparkt wurde. Jesus wusste, dass dieser Mensch hier und jetzt Hilfe brauchte. Das Gebot des Sabbats, an diesem Tag Gott zu ehren und sich nicht mit Arbeit zu beschäftigen, nahm er ernst: Er ehrte Gott, indem er diesen Menschen heilte. Er wollte zeigen, dass Bedürfnisse, Not und Elend eines Menschen für ihn höher angesiedelt waren, als ein Gesetz. Dieses Gesetz war ja nicht falsch. Aber: Ein Gesetz oder eine Vorschrift kann sich nicht erbarmen. Es wird gegeben zum Befolgen. Jesus sah einen lebendigen Menschen in seinem totalen Menschsein.

Gerechtigkeit war für ihn nicht nur ein gesetzlich/juristischer Begriff: Gerechtigkeit war für ihn, dem Menschen in seiner Not und in seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Jesus schaute hin. Er nahm ihn wahr in seiner Sehnsucht nach Gesundheit, seinem Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Er sah einen anderen Menschen als den, den alle Umstehenden sahen.

Gerechtigkeit ist nicht nur das, was ich denke und welches Urteil ich mir bilde, von dem was Recht ist. Sie liegt meist tiefer und fordert mich auf, meinen sicheren Platz zu verlassen und ein paar Schritte mit dem anderen mitzugehen. Ich erfahre Dinge, die mir vorher verschlossen waren. Ich habe die Chance, anders zu denken und neu wahrzunehmen. Und zuletzt: anders zu urteilen.

Dieser Weg ist nicht einfach. Er erfordert schon den Willen, von sich selbst etwas wegzugehen und auf einen anderen Menschen zuzukommen. Was ich aber dabei entdecke ist immer die Mühe wert, die ich eingesetzt habe.

Probieren Sie es einmal.

Autor/-in: Werner Karch